Die Bettelprophetin
ein maulfauler, dickbäuchiger Mensch namens Hufnagl. Theres hockte auf der Schwelle der offenen Haustür, ihr kleines Bündel zu Füßen, und wartete, bis der Mann sein Krüglein warmes Bier ausgeschlürft hatte. In ihrem Innern schwelte noch immer die unaussprechliche Angst vor dem, was auf sie zukam, und davor, Hannes vielleicht nie wiederzusehen.
Theres wandte sich um. Stumm saßen sich Hufnagl und ihr Pflegevater am Tisch gegenüber. Sie waren allein. Ihre Stiefschwester Berthe und ihr Stiefbruder Marx, beide um viele Jahre älter als sie, arbeiteten bereits draußen auf dem Acker, und auch ihr Bruder hatte kaum seinen Napf mit Schwarzem Brei ausessen dürfen, da hatte ihn der Bauer schon zum Schafspferch befohlen. Nur ganz kurz hatten sie und Hannes sich zum Abschied umarmen dürfen, und als Theres ihren Bruder nicht loslassen wollte, hatte der Alte ihr einen schmerzhaften Streich mit der Weidenrute versetzt.
Lautes Stühlerücken ließ sie auffahren. Sie hörte den Büttel nach den Papieren fragen, die er im Waisenhaus abgeben müsse, und unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte nicht weg, das hier war ihre Heimat! In diesem kleinen Häuschen mit seiner vom Herdfeuer dunkel gebeizten Wohnküche und den beiden Bretterverschlägen, die als Schlafkammern dienten, in diesem Dorf auf der Rauhen Alb hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht, und wenn sie jetzt alles so bedachte, war dieses Leben nicht das schlechteste gewesen.
Nicht dass sie ihrem Pflegevater eine einzige Träne nachweinen würde. Dazu hatte sie viel zu oft seine Weidenrute zu spüren bekommen – vor allem, nachdem die Bäuerin gestorben war. Wie oft hatte sie hungrig zu Bett gehen müssen, wenn sie angeblich wieder den Musbrei hatte anbrennen oder das Feuer ausgehen lassen. Aber Hannes oder auch Marx hatten ihr dann heimlich einen Brocken Brot zugesteckt. Nur die Berthe, diese blöde Kuh, hatte sie immer wie Luft behandelt. Hatte sie bei der Hausarbeit herumgescheucht und als «Bettelbastard» beschimpft, wenn sie ihren Befehlen nicht schnell genug gefolgt war. Genauso jähzornig wir ihr Vater war Berthe. Und dabei hässlich und dumm.
Und dennoch – Theres hätte sich niemals beklagt. Schließlichkannte sie es nicht anders, diesen Wechsel aus Arbeit, Schlägen und Mahlzeiten, die einen nicht satt machten. Ihrem Bruder und den meisten andern Bauernkindern rundum erging es nicht besser und nicht schlechter als ihr. Alle mussten sie sich krummschaffen bei der Heimarbeit für irgendwelche raffgierigen Verleger oder auf den steinigen Äckern, die hier auf der Alb nicht viel mehr hergaben als Flachs oder Viehfutter. Trotz alledem war das hier ihre Familie. Und Eglingen ihr Dorf. Jedes Kind, jedes Stück Vieh kannte sie hier, jeder Winkel war ihr vertraut.
Hinzu kam: Hier war ihre Mutter aufgewachsen, in einer kleinen Kate am andern Ende des Dorfes, bevor sie den Ravensburger Taglöhner Jakob Ludwig geheiratet hatte. Ein ganz junges Ding musste sie damals gewesen sein. Die meisten hier ließen allerdings kaum ein gutes Haar an ihrer Mutter. Stolz und hoffärtig sei sie gewesen und habe den Jakob hintergangen. Manche behaupteten gar, sie, die Theres, sei gar nicht dessen leibliche Tochter, in fremden Betten habe sich damals das Luder herumgetrieben, bis der Jakob vor Gram gestorben sei! Und so habe man sich nicht verwundern müssen, dass die Bronnerin irgendwann als Landstreicherin und Bettlerin im Zuchthaus gelandet sei. Als Theres einmal gewagt hatte, ihren Pflegevater zu fragen, wo ihre Mutter jetzt sei und warum sie nie nach Eglingen zurückgekehrt sei, hatte der nur hämisch gelacht. «Vergiss dieses Weibsstück. Die ist längst außer Landes gejagt, falls sie nicht gar am Galgen gelandet ist. Kannst Gott danken, dass wir dich und deinen Bruder aufgenommen haben.»
Nächtelang hatte sie daraufhin geweint und fortan selbst geglaubt, dass ihre Mutter tot sein müsse. Denn warum sonst hatte sie ihre Kinder nie wiedersehen wollen? Jetzt war ihr nur noch der Bruder geblieben, der fast vier Jahre älter war und sieimmer beschützt hatte, wenn die Kinder im Dorf frech geworden waren. Wie konnte der Herrgott es zulassen, dass sie für immer von ihm getrennt werden sollte?
Gut zwei Stunden lang marschierten sie querfeldein, das kleine barfüßige Mädchen neben dem schwergewichtigen Büttel, bis sie die Zwiefalter Alb und damit die Staatsstraße erreichten, die von Reutlingen her auf Ravensburg zuführte.
«Du stinkst wie ein elender
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