Die Beute - 2
dieser Promiskuität zwischen Vater und Sohn zumindest einen Augenblick bewußt wird und bewußt werden kann. Das Milieu ihrer Kindheit ist die Gegenposition, von der aus sie die Gegenwart moralisch werten kann. Für Maxime und Saccard dagegen ist diese Gegenwart, das Kaiserreich, ihr Leben, mit dem sie sich voll identifizieren, sie sind seine Produkte. Seine moralischen Auswirkungen sind natürliche Konsequenzen, die sie akzeptieren, wenn sie ihnen Vorteile bringen. Ihnen kommen keine Skrupel und Bedenken, wandeln sich Schwierigkeiten nicht in Konflikte und Katastrophen. Als Saccard die verbrecherische Beziehung zwischen seiner Frau und Maxime entdeckt, verfliegt sein anfänglicher Zorn in dem Augenblick, da er den unterschriebenen Wechsel für sein Geschäft mit Charonne sieht. Die Freude über den doch noch gelungenen Coup überwiegt selbst seine gekränkte männliche Eitelkeit. Statt der erwarteten Katastrophe zwischen Vater und Sohn kommt es nicht einmal zu einem ernstlichen Konflikt. Friedlich, beinahe Arm in Arm, verlassen Saccard und Maxime Renées Zimmer.
Die moralische Indifferenz dieser Umgebung läßt selbst Renées Katastrophe nicht zur Tragödie reifen. Ihr Aufbegehren versandet, übrig bleibt nur eine gähnende innere Leere.
Schon die ganze Zeit war Renées Leben von Langeweile bedroht, einer Art existentieller Angst, vor der sie in die Geborgenheit ihres Zimmers, zur Wärme ihres Ofens, in die Schwüle des Treibhauses flüchtet, wenn sie nicht als Betäubung den Trubel der mondänen Welt wählt. Mit Renée hat Zola eine sehr »moderne« Gestalt geschaffen, in der schon Züge der findesiècleStimmung sichtbar werden.
Und »modern« ist auch der tatsächliche kompositorische Schluß. Denn der Roman endet nicht in klassischer Erzählmanier mit der »Katastrophe« der Vordergrundshandlung. Sondern in einer Art Kreislauftechnik fügt Zola noch ein weiteres Kapitel an, in dem gleichsam die Vorgänge des Eingangskapitels sich wiederholen: Ausfahrt in den Bois de Boulogne, Coup mit dem Grundstück in Charonne, Besuch Renées im Elternhaus … das Leben geht unverändert weiter, so als wäre nichts geschehen. Der Tod Renées wird in zwei knappen Schlußsätzen wie in einer Zeitungsnotiz mitgeteilt. Diese Technik des »Versandens« einer Geschichte hatte Zola bei Flaubert gelernt, dessen »Erziehung der Gefühle« er mit soviel Begeisterung gelesen hatte.
Andererseits aber macht dieser Schluß von der Komposition her wiederum deutlich, daß die Vordergrundshandlung nicht das entscheidende ist, sondern die Milieustudie des Hintergrundes, und in diesem auf den Kopf gestellten Verhältnis von Erzählvordergrund und hintergrund zeichnet sich strukturell in diesem Buch bereits eine weitere Innovation der Zolaschen Romantechnik ab, die, auf den Bereich der Sachkomplexdarstellung übertragen, wie z.B. im »Bauch von Paris« oder im »Tier im Menschen«, seinen Ruhm als Neuerer des naturalistischen Romans begründen, zugleich aber auch Kritik an seiner Schaffensmethode hervorrufen wird. Tatsächlich führt die Dämonisierung der Dingwelt, die mit einer Banalisierung der Menschenwelt erkauft wird, oft zu einer Reduktion der menschlichen Bedeutsamkeit der Vordergrundshandlung und oft auch zu einem Auseinanderbrechen des Romans in zwei sich unvermittelt gegenüberstehende Teile, deren verlorengegangene Handlungseinheit dann durch Aufbietung vielfältiger Kunstgriffe in der kompositionellen, formalen Struktur suggeriert werden soll.
Von einem solchen Auseinanderbrechen kann im vorliegenden Roman allerdings nicht die Rede sein, denn Vordergrund und Hintergrund stehen in einem ursächlichen gesellschaftlichen Zusammenhang, oder anders ausgedrückt, es handelt sich, wie Zola sagt, »um eine ständige Analyse, die von der dramatischen Begebenheit nur unterbrochen wird«. Aber was Zola »ständige Analyse« nennt, ist im Grunde eine handfeste Satire, deren grelle Farben um des Effektes willen oft etwas dick aufgetragen sind.
Eine Satire wird immer vom Standpunkt eines Ideals geschrieben. Von ihm aus werden die Erscheinungen beurteilt, die Nähe zu ihm oder die Entfernung von ihm gibt den Maßstab für die Bewertung von Menschen und Handlungen.
Von welchem Ideal aus bewertet Zola die dargestellten Zustände in seinem Roman? Fragt man nach seinen positiven Figuren, so gibt es eigentlich nur zwei: den alten, sittenstrengen, unbeugsamen Vater Renées, der sich in der düsteren Ehrbarkeit seines Namens und der Vergangenheit
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