Die Bibel
ist der Grund, warum man den Propheten die Gabe der Weissagung andichtete. Die prophetische Theologie stellte, wie die Naturwissenschaft, einen einfachen Kausalzusammenhang her: Wenn Israel Gottes Willen befolgt, dann fährt es gut und kommt voran, wenn Israel es nicht tut, dann fährt es an die Wand. Das gilt fürs Volk als Ganzes, und es gilt für jeden Einzelnen.
Israel befolgte den Willen Gottes nicht, gab nichts auf das Wort seiner Propheten – und verlor seinen Staat, König und Tempel und landete im Exil. Die Propheten hatten Recht. Die Propheten hatten das Unheil vorausgesagt.
Davids Großreich hat gerade mal über drei Jahrhunderte Bestand.Im Jahr 722 geht das Nordreich verloren, im Jahr 586 auch das Südreich. Israel wird von den Babyloniern und Assyrern auseinander genommen und auf Dauer von fremden Mächten beherrscht. Am Ende wird der Tempel zerstört und die Oberschicht ins babylonische Exil deportiert.
Warum ist es so gekommen? War der Staat Israel nur ein Experiment, das Gott gewähren und scheitern ließ, damit sein Volk zur richtigen Lebensform finden sollte? Genau darüber denken die Theologen im Exil nach. Das Exil war eine für Israel sehr fruchtbare Phase.
Dort erforschen die Theologen die Geschichte ihres Volkes, lesen noch einmal die alten Texte, interpretieren sie neu und entwickeln ihre Geschichtstheologie von der Schöpfung bis zu ihrer Gegenwart und darüber hinaus.
Im Exil schöpft Israel eine neue Hoffnung: Ein Erlöser werde kommen und jenes Projekt zu Ende bringen, an dem es selber gescheitert ist. Aus dem Geschlecht Davids werde ein Sohn geboren werden, von einer Jungfrau, dieser Sohn werde auf den Thron Davids zurückkehren, ein neues Königreich gründen, in dem auf ewig Recht und Gerechtigkeit herrschen werden – so heißt es beim Propheten Jesaja.
Seitdem wartete Israel auf den Messias. Als er dann kam, merkte es Israel nicht. Jener Jesus, von dem die Christen behaupten, er sei der Messias, ist nicht unser Messias, sagen die Juden. Unserer kommt erst noch.
Er ist schon gekommen, und er ist auch der eure, behaupten dagegen die Christen. Wer irrt?
Ist es so wichtig?
Der israelische Schriftsteller Amos Oz erzählt, seine Großmutter habe ihm, als er ein Kind war, die Sache folgendermaßen auseinander gesetzt: «Schau, die Christen glauben, dass der Messias einmal hier war und dass er zurückkommen wird. Die Juden hingegenglauben, dass der Messias eines Tages erst noch kommen wird. Darüber haben sie sich endlos gestritten, und es gab sehr viel Blutvergießen. Warum, fragte sie, kann nicht jeder einfach abwarten und schauen? Falls der Messias kommt und sagt: ‹Hallo, schön euch wiederzusehen!›, müssen die Juden nachgeben. Falls er aber sagt: ‹Hallo, wie geht’s? Schön, mal hier zu sein!›, wird die gesamte christliche Welt sich bei den Juden entschuldigen müssen.»
Hiob
Der Staat zerschlagen, der Tempel geschleift, die Führung im Exil – normalerweise bedeutet dies den Untergang. Nicht so bei den Juden. Sie pflegen ihre Kultur unter den wechselnden Fremdherrschaften einfach weiter, egal, ob sie aus dem Exil zurückkehren nach Judäa oder draußen in der Welt als Minderheit in der Diaspora («Zerstreuung») bleiben. Im Jahr 515, mittlerweile haben die Perser das Sagen, dürfen die Juden in Jerusalem den Tempel wieder aufbauen. Ein Jahrzehnt vor Christi Geburt – es regieren die Römer – darf Herodes den Tempel sogar noch vergrößern und ausschmücken.
Aber im Jahr 70 nach Christus wird der neue Tempel nach einem jüdischen Aufstand von den Römern wieder zerstört, diesmal endgültig. Der nationale Mittelpunkt des Judentums ist verloren, Pilgerfahrten aus der Diaspora nach Jerusalem verlieren ihren Sinn. Rund weitere siebzig Jahre später zerstört Rom auch endgültig die letzten Reste jüdischen Widerstands, verwandelt Jerusalem in eine römische Provinzstadt, benennt sie in Colonia Aelia Capitolina um, baut Thermen, Theater, Reitbahnen und verbietet den Juden, die Stadt zu betreten. Die Geschichte Israels als Volk in Palästina ist zu Ende. Für rund neunzehn Jahrhunderte.
Die Juden zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen. Über fast zwei Jahrtausende wird ihr Leben in der Diaspora zur normalen Existenzform, und was sie diese Zeit überstehen lässt, ist das, was kein anderes Volk hat: die Schriftrollen der Tora, eine mobile Heimat, die man jederzeit einpacken und anderswo wieder auspacken kann.
In der Zerstreuung leben die Juden nicht isoliert,
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