Die Bibel
die Bösen», sondern folgt Kriterien, die wir nicht durchschauen. Wir haben also zwei Möglichkeiten.
Entweder wir bemühen den gesunden Menschenverstand, wie Hiobs Frau, die ihrem Mann sagt: Vergiss diesen Gott. Auf einen Gott, der dich grundlos leiden lässt, kannst du getrost verzichten. Oder, schärfer noch, wie der Philosoph Bertrand Russell sagte: «Die Welt, in der wir leben, lässt sich als Resultat von Wirrwarr und Zufall verstehen, aber wenn sie das Ergebnis einer bewussten Zielsetzung ist, dann muss dies die Zielsetzung eines Satans gewesen sein.»
Möglichkeit zwei drückt sich in Hiobs Haltung aus. Er hört seine Frau reden. Was sie sagt, erscheint ihm verständlich, klingtvernünftig, dennoch hält er fest an Gott. Grundlos leidet Hiob, grundlos glaubt er weiter. Hiob ist an jenen Punkt gelangt, an dem wahrer Glaube erst beginnt. Es gibt keinen Gottesbeweis. Es gibt keinen Grund für den Glauben. Hiob ist am Ende, und erst in diesem Ende findet er zu wirklichem Glauben.
Alle großen Glaubenden der Kirchengeschichte erreichen diesen Punkt. Auch Dietrich Bonhoeffer war dort angelangt, bevor er aufs Schafott ging. «Früher», sagte Bonhoeffer, «wollte ich ein Heiliger werden.» Aber das, so erkannte er, hat mit Glauben wenig, mit Eitelkeit viel zu tun. Erst «wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann –, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube».
Als Hiob durch diesen Punkt ging, war er wirklich frei und ein echter Glaubender. Dies versucht der falsche Schluss der Geschichte auszudrücken: Gott gibt Hiob alles doppelt zurück, was ihm genommen wurde. Falsch ist dieser Schluss, weil er die soeben erledigte Krämerlogik – Glaube zahlt sich am Ende doch aus, sogar doppelt – wieder auferstehen lässt. Es ist ja wahr: Glaube hat seinen eigenen Lohn, aber dieser Lohn ist nicht von der Art, die Krämerseelen erwarten. Darum ist dieser Schluss falsch.
Die Juden verstanden die Geschichte trotzdem, denn in Hiob erkennen sie die zwei Pole wieder, zwischen denen sie leben. Im ersten Pol steckt ihre Fähigkeit, trotz des Gefühls, von Gott und der Welt verlassen zu sein, einfach grundlos weiter zu glauben, im anderen Pol steckt ihre tiefe Sehnsucht und Hoffnung, von aller Gottverlassenheit erlöst zu werden.
Aus dieser etwas melancholischen Existenz wächst aber eine große Freiheit. Und ein tiefer Humor, zu dem bis heute offenbar nur der jüdische Glaube fähig ist. Die besondere Art dieses Humorszeigt sich in folgender Geschichte: Rabbi Joshua und Rabbi Jakob können sich über die Auslegung eines Tora-Abschnitts nicht einig werden. Sie diskutieren und streiten Tag und Nacht, essen nicht und trinken nicht, streiten immer weiter, sieben Tage und sieben Nächte lang, bis Gott sich ihrer erbarmt und ruft: «Schluss jetzt! Hiermit entscheide ich: Rabbi Joshua hat Recht, und Rabbi Jakob hat Unrecht. Jetzt geht heim und schlaft euch aus!» Da richtet Jakob seine Augen nach oben und sagt: «Allmächtiger Gott, du hast die Tora an die Menschen gegeben, jetzt halte dich raus!»
Jesus: Ein Radikaler im öffentlichen Dienst
Die Welt zur Zeit Jesu
In der Nacht vom 29. auf den 30. November 1947 lag im Jerusalemer Viertel Kerem Avraham ein kleiner Junge in leicht verschwitzten Straßenkleidern wach im Bett und sinnierte über das aufregende Ereignis, dessen Zeuge er wenige Stunden zuvor gewesen war. Erstaunt bemerkte er, dass plötzlich sein Vater zu ihm unter die Decke kroch, ebenfalls in verschwitzten Kleidern.
Ein paar Minuten lag der Vater schweigend neben seinem Kind, dann erzählte er dem Sohn flüsternd von seiner Kindheit in Osteuropa, von den Schikanen einiger Straßenjungen in Odessa und wie ihm gojische Jungs am Gymnasium in Wilna die Hose ausgezogen hatten. Auch die Mädchen hätten mitgemacht und gejohlt, und als sich am nächsten Tag sein Vater in der Schule wegen des Vorfalls beschwerte, hätten ihm die Rowdys der Schule nicht etwa die zerrissene Hose wiedergegeben, sondern seien vor seinen Augen auch über seinen Vater hergefallen, hätten auch ihm mitten auf dem Schulhof die Hose ausgezogen, und die Mädchen hätten gelacht und gesagt, die Juden seien alle so und so, und die Lehrer hätten zugesehen und nichts gesagt
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