Die Bibel
Abraham», wenn es nicht um eine Prüfung, sondern um eine Reform der Opfersitten geht? Müsste es dann nicht heißen: Und Gott wollte Abraham das rechte Opfern lehren?
Aber selbst mit diesem Anfang wäre die Geschichte in sich nicht schlüssig, denn wenn es bisher in Abrahams Umgebung der Brauch gewesen wäre, Menschen zu opfern, und wenn damit nun in Morija Schluss gemacht werden sollte, wie hätte dann Isaak nach dem Lamm fragen können? Isaaks Frage setzt den Brauch des Tieropfers doch bereits voraus.
So leicht, wie die Versöhnler es sich machen, kommt man also nicht davon. Wir müssen schon ernst nehmen, was die Geschichte erzählt. Und sie erzählt, ob es uns gefällt oder nicht, von einer Prüfung Abrahams durch Gott. Es ist und bleibt eine grausame Prüfung. Zu Recht stockt uns der Atem, sind wir schockiert.
Wie aber sollen wir das Schockierende verstehen? Wie sollen wir das in Einklang bringen mit dem Bild vom gnädigen, gerechten Gott, das die Kirche zeichnet? Wiederum könnte man es sich einfach machen und sagen, es handle sich um ein frühes, längst vergangenes, nicht mehr gültiges Gottesbild, eben um den Gott des Alten Testaments. Das neue, moderne, das gültige Gottesbild werde im Neuen Testament gezeichnet. Aber Jesus hat keinen neuen Gott gelehrt, auch nie gegen diese Geschichte polemisiert. Sein Gott war der Gott der Juden, der Gott des Alten Testaments. Er ist auch der Gott der Christen. Wer meint, diese Geschichte weichspülen zu müssen, entkommt ihr nicht.
Der Glaube Abrahams
Warum Abraham? In der Geschichte von der Beinahe-Opferung seines Sohnes erfahren wir es endgültig. Was Abraham von anderen Menschen unterscheidet, ist sein radikaler Gehorsam gegen Gott. Er folgt ihm selbst noch dorthin, wo jeder vernünftige Mensch sagt: Bis hierher und nicht weiter.
Das, was uns diesen Mann als so monströs erscheinen lässt, ist genau der Grund, warum gerade er von Gott erwählt wird – eine größere Provokation für moderne Menschen ist kaum denkbar. Vernunft, Selbstbestimmung, Verantwortung, Vaterliebe, dies alles scheint vor Gott nicht zu zählen. Nur an Opfern und blindem Gehorsam scheint er interessiert zu sein. Und davon lässt er nicht ab, denn zwei Jahrtausende später wird wirklich ein Mensch geopfert, Jesus, Gottes eigener Sohn.
Angeblich musste er für unsere Sünden sterben, und der moderne Mensch denkt: Will ich das? Ich bin zwar kein Heiliger, aber so schlimm, dass jemand für mich sterben muss, bin ich auch wieder nicht. Ich will dieses Opfer nicht, brauche keine Opfer, mir ist diese ganze archaische Opferei zuwider.
Archaisch?
In den Jahren 1813/14, ein Jahrzehnt nach Kants Tod, wurde in Deutschland zum ersten Mal in den so genannten Befreiungskriegen von Napoleons Herrschaft der Soldatentod auf dem «Feld der Ehre» gepriesen. Noch im Zweiten Weltkrieg galt es als süß, fürs Vaterland zu sterben. Erst heute scheint die Zeit der Verherrlichung des Opfers fürs Vaterland auf dem «Feld der Ehre» vorbei zu sein, zumindest in Europa.
Dafür wird heute anderen Göttern auf andere Weise geopfert. Manager treiben Raubbau an ihrer Gesundheit, opfern sich selbst und ihre Mitarbeiter im Krieg um Marktanteile, opfern auch ihre Familie und ihre Freunde, wenn sie sich mit Haut und Haar ihremUnternehmen und ihrer Karriere verschrieben haben. Leistungssportler opfern ihre Jugend, manchmal die Kindheit, oft ihre Gesundheit – für eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen, für Werbeverträge und materiellen Reichtum. Und nicht selten sind es die ehrgeizigen Eltern, die ihr Kind Monat für Monat ins Training treiben für den vagen Traum von Ruhm und Geld und den Wunsch, die eigenen unerfüllten Sehnsüchte zu befriedigen. Nur einer von tausend Athleten erreicht das Ziel. Einer bekommt immerhin noch Silber, der Dritte Bronze, aber schon der Vierte hat sein Opfer umsonst dargebracht, genau wie die restlichen Kämpfer. Ganze Industrien wurden auf den kaputten Knochen, zerrissenen Fasern und überdehnten Muskeln von gescheiterten Sportlern errichtet. Immer neue Opfer junger Menschen erhalten diese Industrien am Leben.
Wir opfern die Umwelt für unseren Wohlstand, und neuerdings sogar unsere Zukunft: Weil uns der Kampf um Wettbewerbsfähigkeit rund um die Uhr so auf Trab hält, dass wir keine Zeit mehr haben, um Kinder zu kriegen und zu erziehen, sterben wir aus. So bringen wir uns selbst zum Opfer auf dem Altar des globalen Wettbewerbs.
Diese Hinweise auf die Opfer, die wir heute zu
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