Die Bibel
Instrument der Sozialpolitik. Alle sieben Jahre mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlassen werden, wurde die Verteilung des Ackerlandes neu verlost, wieder Gleichstand hergestellt. Danach konnte das Monopoly von neuem beginnen, aber nach sieben Jahren erhielt der Verarmte zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Damit wurde der Abstand des vom Schicksal Benachteiligten zum Begünstigten wieder aufgehoben oder zumindest verringert. Gleiche Startchancen für alle, zumindest alle sieben Jahre. So bekämpfte Israel die Macht des Schicksals.
Gewiss: eine Lösung, die den Einzelnen nicht gerade zu Höchstleistungen anspornt, und darum würde, wer heute deren Praktizierung vorschlüge, von sämtlichen Unternehmern oder Wirtschaftspolitikern, wenn nicht gesteinigt, so doch mindestens ins Irrenhaus abgeschoben. Nur: Es gab in Israel vermutlich weniger Unglückliche als bei uns, wo nur die ersten Sieger wirklich glücklich sind, und auch diese nur so lange, bis sie von neuen Siegern vom Podest gestoßen werden.
Damit soll nicht die Rückkehr zur israelischen Antike verlangt werden, aber zumindest die Gebildeten unter den Verächtern der Gleichheit könnten sich angesichts der altisraelischen Sozialpolitikvielleicht wieder für den Gedanken öffnen, dass es auch heute noch einen tieferen Grund gibt, die Trias «Gleichheit – Freiheit – Brüderlichkeit» als Einheit aufzufassen, aus der man nicht willkürlich ein Stück herausbrechen kann, ohne die anderen beiden zu gefährden. Von den rund sechs Milliarden Menschen, die derzeit die Erde bevölkern, leben fünf Milliarden in den armen Ländern. Eine Milliarde davon muss täglich mit weniger als einem Dollar auskommen. Die 15 Prozent wohlhabenden Menschen dieser Welt verfügen über 80 Prozent des weltweit verfügbaren Einkommens. Man muss diese Zahlenkolonnen hier nicht fortsetzen, sie sind bekannt – doch so lange sich die Schere zwischen Arm und Reich nicht schließt, so lange wir die wachsende Ungleichheit dulden, wird es Freiheit und Brüderlichkeit auf diesem Planeten nicht geben. Und Frieden schon gar nicht.
Das Sabbatjahr war indes nicht die einzige sozialpolitische Maßnahme. Es galt auch das Gesetz:
Ihr sollt keine Witwen und Waisen bedrücken
. Und wenn ein Schuldner dem Gläubiger das einzige Obergewand als Pfand gegeben hatte, so musste der Gläubiger das Pfand vor Sonnenuntergang wieder zurückbringen, damit der Schuldner in der Nacht nicht friere. Tags darauf durfte das Gewand vom Gläubiger wieder zurückgefordert werden, bis zum nächsten Sonnenuntergang.
Vollends zur Katastrophe als Finanzplatz und Wirtschaftsstandort wurde Israel durch das Zinsverbot:
Wenn dein Bruder verarmt neben dir und sich nicht mehr halten kann, so sollst du ihm Hilfe leisten, er sei ein Fremdling oder Beisasse, damit er bei dir leben kann. Du sollst ihm dein Geld nicht auf Zins geben noch deine Nahrungsmittel um einen Wucherpreis
. Sogar das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist schon eingeführt, und zwar schärfer als heute. Gerichtsvollzieher hätten in Israel keine Chance gehabt, ins Haus zu kommen:
Wenn du deinem Nächsten irgendein Darlehen gewährst, so sollst du nicht in sein Haus gehen, um ihm ein Pfand abzunehmen, sondern draußen stehen bleiben. Der, dem du borgst, soll das Pfand zu dir herausbringen
.
Ökonomisch, wissenschaftlich, technisch hat uns Israel nichts hinterlassen, was erwähnenswert wäre. Der gesellschaftliche Fortschritt jedoch, der von Israel ausging, bestimmt noch heute das Antlitz Europas. Und schuf im übrigen auch die Voraussetzung für die ökonomischen und wissenschaftlichen Errungenschaften Europas und der westlichen Welt. Die israelischen Rebellen kannten die bewunderungswürdigen Kulturleistungen der alten Völker, sahen aber auch ganz nüchtern die Armeen versklavter Menschen, aus deren Blut und Schweiß die herrlichen Blüten der Kunst und des Geistes gewachsen waren. Kultur war bei diesen Völkern nur möglich auf der Grundlage einer ausgebeuteten, selber von Kultur ausgeschlossenen Masse. Noch Friedrich Nietzsche hielt diesen Zusammenhang für eine Art Naturgesetz. Kultur ist für ihn an die Existenz einer Herrenklasse gebunden. Kultur setzt freie Zeit, Muße, Geld und Macht voraus. Sie erfordert Bildung, Geschmack und ein sicheres Urteil. Diener, Lakaien, Sklaven seien dazu nicht in der Lage und darum tunlichst mit sozialen Wohltaten nicht zu behelligen. Weil Nietzsche glaubte, dass die Menschen
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