Die Bibel
spricht die technische Perfektion, mit der diese Siedlungen angelegt wurden. Moderne Häuser, Kopfsteinpflaster, Getreidesilos, Zisternen, Pflüge, Maßnahmen gegen die Bodenerosion – über so viel Know-how und handwerkliche Kunstfertigkeit konnten die Steineklopfer aus Ägypten nicht verfügen. Diese Siedlungen wurden von Menschen gebaut, die schon lange in Kanaan lebten. Sie waren vermutlich Kleinbauern, Pächter, wirtschaftlich Abhängige, die zu hohen Steuern, zu Fron- und Militärdiensten gezwungen wurden und für das Wohlergehen der städtischen Oberschichten zu sorgen hatten – und die sich diese Ausbeutung nicht mehr gefallen lassen wollten und deshalb in die Berge flohen, wohin die Kampfwagen der Machthaber nicht kamen.
Outcasts, wie Moses Leute, waren diese Bauern in den Bergen also auch. Eine Art Exodus hatten sie ebenfalls hinter sich, den Drang nach Freiheit kannten auch sie. Irgendwann treffen diesefreien Bauern die ägyptischen Flüchtlinge, Moses Leute. Andere Nomaden stoßen dazu, darunter eine Abraham-Gruppe, eine Isaak-Gruppe, eine Jakob-Gruppe, alle auf der Suche nach einem Stück Land, auf dem sie sich niederlassen können. Dort in den Bergen finden sie es. Die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs haben also das Land nicht militärisch erobert, sondern sind, zusammen mit anderen, ins Land eingesickert.
Und erst dort, mit den anderen, werden sie zum eigentlichen Volk Israel.
Sie konnten es werden, weil sie einander ihre Geschichten erzählten und dabei die verblüffende Ähnlichkeit ihrer Erfahrungen erkannten. So etwas verbindet. Darum verbünden sie sich. Wenn einer Gruppe Gefahr von den alten Machthabern oder feindlichen Stämmen droht, kommen die anderen zu Hilfe. Für solche kriegerischen Auseinandersetzungen werden kurzzeitig Führer gewählt. Danach kehrt jeder wieder zu seinem Stamm zurück.
Diese verschiedenen Gruppen leben nun in einem lockeren Verbund aus Familien und Sippen nebeneinanderher. Von Zeit zu Zeit kommen sie zusammen, beraten über praktische Dinge, die mit ihrem Leben als Viehzüchter und Ackerbauern zusammenhängen. Sie versammeln sich aber auch zu gemeinsamen Festen an verschiedenen Heiligtümern und erzählen sich dort ihre Geschichten.
Die freien Bauern haben ihre alten Götter aus den Städten mitgebracht, aber als sie vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hören, finden sie diesen überzeugender und lassen ihre alten Götter fallen. Über den gemeinsam verehrten Gott wächst die ehemals bunte Chaostruppe zu einem Zwölf-Stämme-Bund und über diesen zum neuen Volk Israel zusammen – ohne Regierung, ohne Staat.
Die Mose-Gruppe hat aus der Wüste die Zehn Gebote mitgebracht und eine Reihe weiterer Vorschriften, Rechtsregeln, Speise- und Fastengesetze und Reinheitsgebote. Auch die anderen haben Regeln, Grundsätze, Gesetze.
Daraus entwickelt sich im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte das Zentrum Israels, die Tora, die Sozialordnung Gottes, das Gesetz. Dieses Gesetz und der Glaube an den einen Gott unterscheiden das neue Volk der Juden von allen anderen damals lebenden Völkern.
Die Tora ist keine Neuerfindung des Rechts. Große Teile der Tora stammen aus den Kulturen, denen die verschiedenen Stämme Israels entflohen sind. Aber das neue Volk formt dieses alte Rechtsgut entscheidend um und fügt ihm welthistorisch bedeutsame Neuerungen hinzu.
Die Neuerungen und Umformungen speisen sich aus der gemeinsamen Grunderfahrung dieser Menschen als frühere Sklaven und aus der revolutionären Erkenntnis: Könige sind auch nur Menschen. Dass sie sich selbst vergöttern und von ihren Untertanen vergöttern lassen, steht ihnen nicht zu. Und es steht ihnen auch nicht zu, kraft ihrer Königswürde andere Menschen zu Nutztieren und Zugvieh herabzuwürdigen.
In dieser Erkenntnis treffen sie sich mit Gottes Vorstellungen von einer anderen Welt. Ihre Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft treibt sie in die Arme des dafür richtigen Gottes. Und Gott findet für seine Pläne das dafür richtige Volk. In der Tora setzt das neue Volk den ersten großen Meilenstein auf dem Weg zur Verwirklichung von Gottes Utopie. Kanaan birgt diesen Stein. Darum ist es das Gelobte Land.
Die Sozialordnung Gottes
In Ägypten und in den kanaanäischen Königsdiktaturen hatten die Mitglieder des neuen Bundes erfahren, dass es zwei Arten von Menschen gibt: jene, die die Peitsche schwingen, und jene, die sie erleiden müssen – gegen diese scheinbar natürliche Ordnung der Welt setzte Israel
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