Die Bibliothek der verlorenen Bücher
ganz besondere Bedeutung. Der 1909 in London geborene Lowry hatte sowohl die Hölle des Alkoholismus als auch das Fegefeuer der Nervenheilanstalt am eigenen Leib erfahren. Die Sehnsucht nach Anerkennung und die Schuldgefühle, die ihn nach dem Selbstmord eines Freundes quälten, trieben ihn in die Sucht. Die Sucht und der Wahn wurden jedoch bald zu unverzichtbaren Quellen seiner Inspiration. Die einzigen Hinweise, die wir auf Lowrys Vision vom Paradies haben, sind die verlorenen Paradiese seiner gescheiterten Romanfiguren, deren Hoffnung auf privates Glück in der Vergangenheit begraben wurde. In seinem eigenen Leben war es nicht viel anders.
Da ihm die Einreise in die USA wegen Trunkenheit verwehrt wurde, zog sich Lowry Anfang der 1940er Jahre mit seiner Frau Margerie in eine Waldhütte in die kanadische Wildnis zurück, um in der Einsamkeit die jüdische Geheimlehre der Kabbala zu studieren, »Unter dem Vulkan« zu Ende zu schreiben und immer wieder neu zu überarbeiten. Im Rückblick erschien ihm diese Zeit als vergleichsweise paradiesisch; seine Arbeit machte gute Fortschritte, sein Alkoholproblem schien bewältigt, und Margerie, die große Liebe seines Lebens, erwies sich als kluge und unersetzliche Hilfe bei den notwendigen Korrekturen. »In Ballast to the White Sea« war bereits so gut wie vollendet, ein etwa zweitausend Seiten umfassendes Manuskript lag vor, und die Aussicht auf eine erfolgreiche Veröffentlichung war gut. Doch das Schicksal wollte es anders: Am 7. Juni 1944 ging Lowrys Hütte mit seinen sämtlichen Manuskripten in Flammen auf. In letzter Minute und unter Einsatz ihres Lebens konnte Margerie Lowry nur eine von mehreren Fassungen des Romans »Unter dem Vulkan« retten – beinahe wäre auch dieses Buch ein verlorenes Meisterwerk der modernen Literatur geworden. Wieviel Lowry zur Rettung seines Werkes beitrug, ist nicht bekannt. Vielleicht empfand er sogar ein seltsames Glücksgefühl beim Anblick seiner brennenden Manuskripte. Vielleicht sah er in dem Feuer die göttliche Strafe für die eigene künstlerische Unvollkommenheit, die ihn peinigte und zu immer neuen Überarbeitungen antrieb. Vielleicht erblickte er in der Asche die Möglichkeit eines Neubeginns, der ihn endlich zur Perfektion führen würde. Wahrscheinlich reagierte er aber so, wie jeder andere Schriftsteller reagiert hätte, der das Werk von Monaten und Jahren in Flammen aufgehen sieht: fassungslos. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder an seine Arbeit denken konnte.
Obwohl das Manuskript von »In Ballast to the White Sea« vernichtet wurde, sind einige ältere Entwürfe und einzelne Seiten einer früheren Fassung erhalten. In einem Brief, den Lowry sieben Jahre nach der Katastrophe an seinen Freund David Markson schrieb, schilderte er ausführlich den Inhalt des verbrannten Romans, den er als eine Art »strindbergschen Tonio Kröger von Maeterlinck, nach Melville« bezeichnete.
Der Held des Romans, ein junger Student in Cambridge, skandinavischer Herkunft, hat dieselben seemännischen Erfahrungen wie Lowry, und so wie dieser seine Inspiration aus den Werken Melvilles, Griegs und Aikens bezog, ist er von einem bestimmten Buch fasziniert: Es ist ein Roman über das Meer von einem norwegischen Schriftsteller, ein erschrekkendes und furchtbares Werk, eine Art »Moby-Dick«, der allerdings »weniger mit Walen zu tun hat als mit dem Schicksal der individuellen und lebendigen Besatzung der Acushnet (so hieß die Pequod ursprünglich)«. Je öfter der Student das Buch liest, desto mehr identifiziert er sich mit dem Helden, dessen Erlebnisse und Erfahrungen sich möglicherweise mit jenen des Autors, sicher aber mit jenen des Studenten decken. Denn auch dieser hat ein autobiographisches Werk verfasst, das auf unheimliche Weise die Geschichte des Norwegers spiegelt. Am Ende führt eine Begegnung zwischen dem Studenten und dem Autor zu einer Art Erlösung beider, zu einem Ausweg aus Wahnsinn, Besessenheit und Isolation – zurück ins Leben, ins weltliche Paradies aus innerem Frieden und privatem Glück, das dem hoffnungsvollen Ende der »Göttlichen Komödie« Dantes entspricht. »Tatsächlich ist das Ganze noch viel komplizierter«, schrieb Lowry, »aber lassen wir’s mal so.«
Der zerstörte Roman über das weiße Meer reflektiert die Begegnung Lowrys mit dem Norweger Nordahl Grieg, dessen Roman »Und das Schiff geht weiter« ein Vorbild für »Ultramarin« war. Lowrys Werk entpuppt sich als Labyrinth, das
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