Die Bibliothek des Monsieur Proust (German Edition)
von Racine genau; Phèdre und die beiden biblischen Dramen über zwei alttestamentarische Königinnen, Esther und Athalie . Diese beiden wurden für Saint-Cyr geschrieben, die Mädchenschule, die Mme de Maintenon, in morganatischer Ehe mit Ludwig XIV . verbunden, gegründet hatte. Alle Rollen wurden von Mädchen gespielt. Um jeder Schülerin die Chance zum Mitspielen zu geben, führte Racine Chöre ein, so daß große Gruppen von Mädchen auf der Bühne herumstanden, aber nicht viel zu tun hatten. Wenn wir an Prousts Überzeugung denken, daß ein leidenschaftlicher Leser immer sein eigenes Ich entziffert, in dem Text, in den er sich versenkt, immer sich selbst sieht, können wir ohne Mühe verstehen, wie Proust und folglich einige seiner Romanpersonen in ihrer Phantasie diese jungen Schönheiten als Knaben sahen. Und die drei alten Tunten in der Recherche (Marquis de Vaugoubert, der alberne Diplomat mit der pferdegesichtigen Ehefrau; Blochs reicher Onkel Nissim Bernard; und Charlus natürlich) können tatsächlich nicht umhin, sich an Racines Chöre zu erinnern, wann immer sie eine Gruppe müßig herumstehender junger Männer sehen – Hotelpagen, Kellner oder junge Dandys. Vaugoubert zum Beispiel gerät ganz außer sich, als er hört, daß einige Sekretäre der Botschaft, an die er gesandt werden soll, vielleicht seine sexuelle Ausrichtung teilen. Der Erzähler beobachtet seine Aufregung und stellt sich vor, wie dem Botschafter die Verse Esthers durch den Kopf gehen, die ihrem Ehemann Assuérus verschwiegen hat, daß sie und ihre Begleiter jüdischer Herkunft sind, Verse, die auf die jungen, von Mordecai zusammengerufenen Israelitinnen an ihrem Hof anspielen:
Cependant son amour pour notre nation
A peuplé ce palais des filles de Sion, …
Il ( l'excellent ambassadeur ) met à les former son étude et ses soins. (2:249)
So hat sein Eifer denn für unsere Nation
Mit Zions Töchtern rings umgeben meinen Thron, …
Hier am verborgnen Ort, unheil'gen Augen fern,
Erzieht und bildet er ( der ausgezeichnete Botschafter ) die Schar zum Dienst des Herrn. (4, 101)
Natürlich hat M. de Vaugoubert Angst, als Homosexueller erkannt zu werden, und gibt dem Erzähler damit Gelegenheit für ein anderes Racinezitat. Die beiden Zeilen, die Esther spricht – ganz wie Vaugoubert ängstlich bemüht, ihr Geheimnis zu wahren –, schildern genau das Verhalten in der Öffentlichkeit, das der Diplomat sich zur Regel gemacht hat:
Le roi jusqu'à ce jour ignore qui je suis,
Et ce secret toujours tient ma langue enchâinée . (2, 249)
Der König selber weiß bis heut nicht, wer ich bin.
Und dies Geheimnis schließt noch immer meine Lippe. (4, 102)
Racine wird hier nicht nur um der komischen Effekte willen angeführt: Die Zitate verstärken auch die Analogie zwischen Juden und Homosexuellen, die Proust am Anfang von Sodom und Gomorrha zeigt – in seinem Klagelied über die »Rasse, auf der ein Fluch liegt« –, wenn er den Vergleich zwischen Juden und Sodomiten zieht: »versammelt mit ihresgleichen durch das Scherbengericht, das über sie verhängt wird, durch die Schmach, in die sie hinabgesunken, gezeichnet am Ende nach einer Verfolgung, die der der Juden gleicht, mit den physischen und psychischen Merkmalen einer Rasse«. [ 2 ] Als das Grandhotel in Balbec, in dem der Erzähler und seine Großmutter wohnen, zum Schauplatz der Geschichte wird, gibt Proust diesen dramatischen Akzent auf. Schnell greift er wieder zu unwiderstehlichen Parodien, deren Thema Nissim Bernards Absichten auf einen jungen Kellner sind. Der Erzähler schlägt den Ton an, indem er das Grandhotel mit dem Salomonstempel und die Hotelpagen mit »den jungen Israeliten in den Chören von Racine« vergleicht, da sie, außer an dem Tag, an dem sie Ausgang haben, »das gleiche Tempeldasein [führen] wie dieLeviten in Athalie «. [ 3 ] Hier spricht Racine von den Nachkommen des hebräischen Stammes der Leviten, deren Aufgabe der Tempeldienst war. Esther und Vaugoubert haben das gleiche Problem: Sie müssen ihre Identität verheimlichen, also ist der Vergleich zwischen ihnen unerwartet, aber nicht an den Haaren herbeigezogen. Schwieriger ist es, Gemeinsamkeiten zwischen Racines Athalie und M. Nissim Bernards Aktivitäten zu finden. Die Tragödie handelt von dem tödlichen Zusammenstoß Athalies, der Königin der Juden, mit dem jüdischen Hohepriester Joad. Athalie hat den jüdischen Glauben aufgegeben und alle ihre Nachkommen
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