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Die Bibliothek

Die Bibliothek

Titel: Die Bibliothek Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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das gewünschte Buch nicht erst lange bestellen, sondern man passiert mit einem Ausweis einen elektronischen Zerberus, nimmt einen Lift und ge-langt direkt ins Magazin zu den Bücherregalen. Nicht daß man dort immer lebend wieder herauskommt, in 21

    den Gängen der Sterling Library ist es zum Beispiel sehr leicht, einen Mord zu begehen und die Leiche irgendwo unter einem Regal mit Landkarten zu verstek-ken, wo sie erst Jahrzehnte später gefunden wird.
    Auch gibt es dort ein sehr raffiniertes Ineinander von Geschossen und Zwischengeschossen, so daß man nie weiß, ob man gerade in einem Stock oder in einem Zwischenstock ist, und folglich den Lift nicht mehr findet. Das Licht geht nur an, wenn man es anknipst, weshalb es passieren kann, daß man, wenn man den richtigen Schalter nicht findet, lange im Dunkeln um-hertappt.
    Anders in Toronto, dort ist alles taghell. Doch in beiden Bibliotheken geht der Benutzer frei umher, schaut sich die Bücher in den Regalen an, nimmt sich heraus, was er braucht und kann sich damit in Säle mit bequemen Sesseln begeben, um in aller Ruhe zu lesen.
    In Yale sind die Sessel nicht ganz so schön wie in Toronto, aber auch dort kann man die Bücher in der Bibliothek umhertragen, um sie zu fotokopieren. Foto-kopiergeräte sind zahlreich vorhanden, in Toronto gibt es zudem ein Büro, das kanadische Dollars in Münzen wechselt, so daß man sich kiloweise mit Münzen versehen an seinen Fotokopierer stellen und sogar Bücher von sieben- bis achthundert Seiten kopieren kann. Die Geduld der anderen Benutzer ist grenzenlos, sie stehen und warten, ohne zu murren, bis man die letzte Seite kopiert hat.
    Natürlich kann man die Bücher auch ausleihen, die Formalitäten sind rasch erledigt: nachdem man sich frei durch die acht, fünfzehn, achtzehn Geschosse der Bibliothek bewegt und sich die gewünschten Bücher 22

    genommen hat, schreibt man die Titel auf einen Leih-schein, gibt ihn bei einem Schalter ab und geht hinaus.
    Wer kann hinein? Jeder, der einen Benutzerausweis hat, und auch den erhält man leicht in ein bis zwei Stunden, wobei die Bürgschaft manchmal sogar nur telefonisch gegeben zu werden braucht. In Yale dürfen zwar die Studenten nicht ins Magazin, sondern nur ausgewiesene Wissenschaftler, aber für die Studenten gibt es dort noch eine weitere Bibliothek, die, abgese-hen von sehr alten Büchern, ebensogut bestückt ist und wo die Studenten sich ebenso wie die Dozenten selber holen können, was sie brauchen. Insgesamt steht einem in Yale ein Kapital von acht Millionen Bänden zur Verfügung. Kostbare Manuskripte sind natürlich in einer besonderen Abteilung untergebracht und etwas weniger leicht zugänglich.

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    Warum ist nun der freie Zugang zu den Regalen so wichtig? Eines der Mißverständnisse, die den allgemeinen Begriff der Bibliothek beherrschen, ist die Vorstel-lung, daß man in eine Bibliothek geht, um sich ein bestimmtes Buch zu besorgen, dessen Titel man kennt. Natürlich kommt es oft vor, daß man in eine Bibliothek geht, weil man ein bestimmtes Buch haben will, aber die Hauptfunktion einer Bibliothek - jedenfalls meiner privaten Bibliothek und jeder, die wir im Hause von Freunden durchstöbern können - ist die Möglichkeit zur Entdeckung von Büchern, deren Exi-stenz wir gar nicht vermutet hatten, aber die sich als überaus wichtig für uns erweisen. Gewiß kann man diese Entdeckung auch machen, wenn man den Katalog durchblättert, aber nichts ist aufschlußreicher und spannender, als eigenhändig die Regale zu durchstö-
    bern, die womöglich alle Bücher zu einem bestimmten Thema enthalten (was man im Autorenkatalog nie hätte entdecken können), und neben dem Buch, des-sentwegen man gekommen ist, ein anderes Buch zu finden, das man gar nicht gesucht hatte, aber das sich als fundamental herausstellt. Mit anderen Worten, die Idealfunktion einer Bibliothek ähnelt ein bißchen der-jenigen der Bouquinisten am Seineufer, bei denen man Trouvaillen machen kann, und diese Funktion erhält sie nur durch den freien Zugang zu den Regalen.
    Daraus ergibt sich, daß in einer solchen, dem Menschen gemäßen Bibliothek der am wenigsten frequen-tierte Saal der Lesesaal ist. Auf diesem Niveau sind auch gar nicht mehr viele Lesesäle notwendig, denn die Leichtigkeit des Ausleihens, des Fotokopierens, des Mit-nach-Hause-Nehmens der Bücher macht einen 24

    Großteil der Aufenthalte im Lesesaal überflüssig.
    Oder es fungieren als Lesesäle (wie in Yale) die refresh-ing areas, die

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