Die Biene Maja
sollte man den Versuch machen, Sie zu fressen«, sagte da plötzlich der Weberknecht, der offenbar die Gutmütigkeit Majas für Schwäche gehalten hatte. Aber da geschah es der kleinen Biene ganz seltsam, ihre Trauer war plötzlich verflogen, und an Stelle von Schreck oder Furcht stieg ein ruhiger Mut in ihrem Herzen empor. Sie richtete sich ein wenig auf, und während sie ihr hohes helles Summen ausstieß, fast ohne zu wissen, daß sie es tat, sagte sie mit glänzenden Augen und hob ihre schönen durchsichtigen Flügel ein wenig:
»Ich bin eine Biene, mein Herr.«
»Pardon«, sagte Hannibal, drehte sich ohne Gruß um und lief den Stamm so rasch hinunter, wie man nur irgend mit sieben Beinen laufen kann.
Maja mußte lachen, ob sie wollte oder nicht. Unten begann Hannibal laut zu schelten.
»Sie haben einen schlechten Charakter,« rief er aufgeregt, »Sie gehen mit Ihrem Stachel gegen Leute vor, die durch harte Schicksalsschläge daran behindert sind, sich in gewohnter Weise von der Stelle zu bewegen. Aber Ihre Stunde wird schlagen, und sobald Sie in Bedrängnisse geraten, werden Sie an mich denken und alles bereuen.«
Er verschwand unter den Huflattichblättern am Boden. Die kleine Biene hatte nicht mehr alles verstanden, ihr war wohl zumut, zumal der Wind fast ganz nachgelassen hatte und der Tag schön zu werden versprach. Hoch am Himmel zogen weiße Wolken im tiefen Blau, sie sahen still und glücklich aus, wie gute Gedanken Gottes. Und heiß und unwiderstehlich überfiel die kleine Biene die Sehnsucht nach dem satten Schattengrund der Waldwiesen und nach den besonnten Hängen jenseits des großen Sees, dort mußte längst ein frohes Leben begonnen haben. Sie sah die schlanken Gräser schaukeln, und am Waldrand wuchsen in den schmalen Wassergräben hohe gelbe Schwertlilien. Von ihren Kelchen sah man hinüber in die geheimnisvolle Nacht des Tannenwaldes, aus dem es kühl und traurig wehte. Sie wußte, in seiner finstern Stille, die den Sonnenschein in ein rötliches Schlummerlicht verwandelte, lag das Heimatland der Märchen.
Da flog sie schon durch die Luft. Es war ihr gar nicht recht zum Bewußtsein gekommen, daß sie aufgeflogen war. Die Waldwiesen und ihre Blumenhänge hatten sie gerufen. O du lieber Gott, dachte sie, wie herrlich ist es, zu leben.
Zehntes Kapitel
Die Wunder der Nacht
So verlebte die kleine Maja unter den Insekten die Tage und Wochen ihres jungen Lebens. Wohl vermißte sie bei ihrem Umhertreiben, bei allen Freuden und Gefahren, in der schönen sommerlichen Welt oft die Gefährten ihrer ersten Kindheit, und zuweilen überfiel sie ein schmerzvolles Heimweh nach dem verlassenen Königreich ihres Volkes. Auch kannte sie Stunden, in denen sie sich nach einer geordneten Tätigkeit sehnte, nach nützlicher Beschäftigung und nach Gesellschaft unter ihresgleichen. Aber sie hatte im Grunde eine ruhlose Natur, die kleine Maja, und sie würde sich wohl kaum schon dauernd in der Gemeinschaft der Bienen wohlgefühlt haben. Bei allen Tieren, wie auch unter den Menschen, kommt es vor, daß einzelne Charaktere sich nicht in die Gewohnheiten aller schicken können, und man muß vorsichtig sein und ernstlich prüfen, bevor man solch ein Wesen verurteilt. Denn es ist keineswegs immer nur Trägheit oder Eigensinn, sondern häufig verbirgt sich hinter solchem Drang eine tiefe Sehnsucht nach Höherem oder Besserem, als der Alltag zu bieten vermag, und aus jungen Durchgängern sind oft erfahrene und kluge Männer geworden oder verständige und gütige Frauen. Und die kleine Maja hatte im Grunde ein reines und empfängliches Herz, und ihre Stellung zur schönen weiten Welt, in der sie zum Leben erwacht war, war getragen von aufrichtiger Wißbegier und großer Freude an den Herrlichkeiten der Schöpfung.
Aber selbst im Glück schöner Erlebnisse ist das Alleinsein schwer, und je erfahrener die kleine Maja wurde, um so häufiger sehnte sie sich nach Gemeinschaft und Liebe. Sie war nun keine ganz junge Biene mehr, sondern ein prächtiges, starkes Bienentier, begabt mit blanken, gesunden Flügeln, einem spitzen und gefährlichen Stachel und einem ausgebildeten Sinn für die Gefahren und Freuden ihres Lebens. Sie hatte Erfahrungen gemacht und Kenntnisse gesammelt und wünschte sich nun oft, sie auf rechte Art verwenden zu können. Vielleicht wäre sie eines Tages in den Stock zurückgekehrt, hätte sich der Königin zu Füßen geworfen und ihre Verzeihung erfleht, um wieder in Ehren aufgenommen zu werden. Aber ein
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