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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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besonderen Licht des Spätnachmittags, erneut beinahe durchsichtig wirkten. Noch eindrucksvoller aber war zu dieser Stunde der Blick über die weite Tremadog-Bucht hinweg zum Festland, denn dort leuchtete in stiller, entrückter Schönheit Eryri Gwyn: der Weiße Adler, wie die Kelten hier im äußersten Westen Britanniens das mächtige Bergmassiv nannten.
    »Der Göttersitz unseres Landes Gwynedd«, sagte Branwyn ergriffen. »Seit den ältesten Zeiten ist er uns heilig.«
    »Ja, es ist ein besonderer Berg«, stimmte Dafydd zu. »Manchmal stelle ich mir Jesus dort oben vor. Ich male mir dann aus, daß er den Gipfel besteigt, seine Jüngerinnen und Jünger um sich versammelt und ihnen seine barmherzige Weisheit predigt.«
    »Wäre er jemals hierher gekommen, so hätte er das Antlitz des Eryri Gwyn bestimmt geliebt«, nickte Branwyn. »Doch sicher kannte er auch in seiner Heimat einen vom göttlichen Geist beseelten Berg, wo er Zwiesprache mit seinem himmlischen Vater hielt. Schließlich schlagen solche Orte überall auf dem Erdball die Brücke zwischen uns Menschen und den Andersweltlichen …«
    Sie stutzte, deutete in die Richtung des Eilandes, das ihr Ziel war, und rief aus: »Aber sieh nur! Die Sonne! Lug selbst zeigt uns den Pfad, dem wir folgen müssen!«
    In der Tat hatte sich eine glitzernde Lichtbahn, die genau auf die Ynys Vytrin wies, über das Meer gelegt. Wenig später trieb das Boot in dieses Glänzen hinein und folgte ihm nun längere Zeit mit einer starken Strömung, bis der Fels der Gläsernen Insel hoch über dem Curragh aufragte. Der Sog trug das Boot nahe an den Walkopf des Eilands heran; weil dort neuerlich Kreuzseen aufsprangen, mußte Dafydd einmal mehr hart mit dem Paddel arbeiten. Endlich erreichten sie ruhigeres Fahrwasser im Lee der Insel; Dafydd steuerte die schroffe Flanke der Ynys Vytrin entlang und brachte den Curragh zuletzt dort an Land, wo sich am Ansatz des Walschwanzes eine schmale Bucht öffnete.
    Im selben Augenblick, da der Bootsboden über die Strandkiesel schurrte, stieß Branwyn einen seltsamen Pfiff aus. Der Widder, der eben noch wie schlafend dagelegen hatte, wurde schlagartig lebendig; er schüttelte sich und strampelte. Lachend half die junge Frau ihm an Land; gleich darauf strebte der Bock ihr und ihrem Begleiter voran: den Pfad hinauf, der zum Inseldorf führte.
    ***
    Die Ansiedlung lag auf halber Höhe des Eilands in einer windgeschützten Talmulde und war sowohl von heidnischen als auch christlichen Kelten bewohnt. Friedlich teilten die Anhänger der alten Gottheiten sich den Platz mit jenen, die sich bemühten, der Lehre Jesu zu folgen. Schon seit mehreren Menschenaltern war das so, und nie hatte es Rivalitäten zwischen Getauften und Ungetauften gegeben.
    Der einfache und vielleicht gerade deswegen so anheimelnde Charakter des Dorfes spiegelte diesen Geist des Miteinander wider. Etwa ein Dutzend Rundhäuser gruppierten sich im lockeren Oval um einen flachen Felsteich, der als gemeinsames Süßwasserreservoir diente. Die Wände der Häuser bestanden aus dick mit Lehm verstrichenem Rutenflechtwerk; freilich war davon nicht viel mehr als ein ungefähr hüfthoher Streifen direkt über dem Boden zu sehen, denn die etwa zwei Ellen starken Reetdächer waren, um die Feuchtigkeit von den Außenwänden abzuhalten, entsprechend weit herabgezogen. Gleich riesigen, spitz zulaufenden Hauben saßen diese aus armdicken Binsenbündeln geformten Dächer auf den Gebäuden; an der Südseite eines jeden Rundhauses bildeten sie in einer weichen Ausstülpung eine Art niedrigen Torbogen, so daß den Bewohnern der Zugang zur einzigen Tür möglich war.
    Jetzt, da Branwyn und Dafydd die Ansiedlung erreichten, stiegen überall aus den kegelförmigen Spitzen der Reetdächer dünne Rauchfäden zum abendlichen Firmament. Drinnen bereiteten die Frauen über den offenen Feuerstellen das Nachtmahl zu, und der Anger in der Dorfmitte lag deshalb wie ausgestorben da. Doch als der junge Schafbock mehrmals laut blökte und daraufhin etliche Hunde aus den Häusern schossen, wurden deren Bewohner ebenfalls aufmerksam und kamen ins Freie. Wenig später war das Paar, das den Tag auf dem Festland verbracht hatte, von einer Menschentraube umringt. Jeder wollte den Widder sehen und erfahren, wie der Handel abgelaufen war. Am Ende waren die meisten Dörfler der Meinung, daß sich der kräftige zweijährige Bock sehr gut zur Blutauffrischung der Herde eignete, die man zum allgemeinen Nutzen auf dem Eiland

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