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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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dem äußersten Kap des Festlandes gegenüber der Insel einen geschützten Platz gesucht hatte, war von Kindheit an mit diesem Wunder vertraut. Schon häufig war Branwyn Zeugin der Verwandlung geworden, und auch jetzt wieder hatte sie das Gefühl, als bereite sich eine derartige Metamorphose vor. Sie glaubte zu spüren, wie der Atem des Meeres schwerer und gleichzeitig ruhiger wurde; wie zartes und dennoch machtvolles Weben aus der Erde drang und sich mit dem Rauschen der See verband. Nach einer Weile empfand Branwyn tiefe Hingabe an diesen Gleichklang von Land und Meer: eine Art behutsamer Betäubung, die ihr Blut sowohl langsamer als auch kräftiger durch die Adern strömen ließ.
    Es war fast so, als würden Dafydds Hände sie in einer lauen Nacht berühren …
    Der Gedanke malte ein zärtliches Lächeln auf das Gesicht der schlanken, mittelgroßen Frau, die nicht viel älter als zwanzig Jahre war. Sie schmiegte sich enger an den von der Sommersonne erwärmten Felsen, an dessen Fuß sie saß, schloß die Lider und versuchte die Vorstellung festzuhalten. Der leise, ein wenig herb duftende Luftzug, der über das Heidekraut heranstrich, fächelte ihr langes, über der Stirn hochgebundenes und dann frei und lockig über die Schultern fallendes Haar. Es war von ungewöhnlicher Farbe und schien das changierende Geheimnis der Ynys Vytrin in sich zu bergen; jetzt, im Sonnenschein, schimmerte es rotblond, doch an den Abenden, im Schein des Herdfeuers, nahm es den Glanz reifer Kastanien an und bildete dann einen erregenden Kontrast zu ihren graublauen Augen. Allein das hätte Branwyn sehr anziehend gemacht, aber auch in ihren Gesichtszügen lag ein besonderer Zauber; ihr ovales Antlitz war nicht nur reizvoll geformt, sondern strahlte zudem warmherzige Intelligenz aus.
    Ein Rascheln im Heidekraut, ganz nahe bei dem Kräutersack in ihrer Armbeuge, ließ Branwyn zusammenzucken. Im nächsten Moment sah sie den Feuersalamander, der offenbar zu einem Regenwassertümpel ein Stück seitlich der Felsschrunde unterwegs war, nun aber, weil sie sich bewegt hatte, reglos verharrte. Die meisten Menschen wären angesichts des gut eine Handspanne langen Schwanzlurches erschrocken zurückgewichen, denn seine schwarze, mit grellgelben Flecken gesprenkelte Haut konnte ein giftiges, ätzendes Sekret absondern. Doch die junge Frau in dem einfachen Leinenkleid, das in der Taille von einem geflochtenen Rohledergürtel zusammengehalten wurde, empfand keine Angst. Vielmehr sandte sie dem Salamander den friedlichen Gedanken, daß sie ebenso wie er ein Geschöpf Ceridwens, der Dreifachen Göttin, sei. Tatsächlich schien der Lurch zu reagieren; sein Körper entspannte sich, gleich darauf setzte er seinen Weg fort – bis aus seinem graziösen, nicht sonderlich eiligen Davonhuschen jäh panische Flucht wurde.
    Mit demselben Lidschlag ging dort, wo eben noch die klaren Konturen der Insel zu sehen gewesen waren, eine phantastische Veränderung vor sich. Die Ynys Vytrin verwandelte ihre Gestalt; ihr dunkles Gestein schien unter dem unvermittelt heftigeren Ansturm der Wogen wegzuschmelzen, während die Brecher selbst zu feinem, durchscheinendem Nebel wurden. Wiederum einige Herzschläge später verwich die Silhouette des Eilands; einzig die höchste Erhebung der Insel entzog sich ihrer Auflösung und hing nun entrückt über den Wellen. Andersweltliches Leuchten flutete von dort auf die See hernieder; auf das Meer, das sich jetzt tief unter dem schwebenden Gipfel des Eilands wiegte und den Blick bis zum Horizont freigab.
    Mit angehaltenem Atem hatte Branwyn die Metamorphose verfolgt – nun spürte sie, daß die Macht von Annwn sie rief. Die übernatürliche Erscheinung weckte tief in ihrem Inneren die Gabe, die ihr angeboren war: die Kraft, Schauungen zu erleben, die sie manchmal sogar weit über die Grenzen ihres gegenwärtigen Daseins hinausführten. Ihr Puls begann zu rasen; zunehmend hatte sie das Empfinden, daß ihr Körper sich ähnlich wie die Ynys Vytrin auflöste. Dann war sie plötzlich weit draußen auf der See, dort wo das andersweltliche Licht über der Flut irisierte – und im gleichen Moment, da das unbeschreibliche Leuchten sie ganz einhüllte und sich mit ihrem eigenen Wesen verband, öffnete sich das Auge ihres von der Zeit losgelösten Geistes. Bilder wirbelten heran: das Dorf auf der Insel, die ihr so vertrauten Menschen dort, die Heilige Quelle mit den Haseln und Birken ringsum, dann ein zerklüftetes Gestade weit jenseits des

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