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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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bedrohlichen Konturen nicht wirklich greifbar wurden.
    Im nächsten Moment vernahm sie erneut Arawns Stimme, und es war, als hätte die Greisin ihre Gedanken erraten: »Die einzelnen Lebenskreisläufe, deren Ende uns manchmal so sinnlos erscheinen will, wenn wir einen Baum vermodern oder einen geliebten Menschen sterben sehen, sind jedoch abermals Teile eines größeren Ganzen. Jedes Dasein nämlich birgt im selben Moment, da es zu seinem Ende kommt, bereits den Samen eines neuen Lebens in sich. Deshalb haben wir keinen Grund, den Tod zu fürchten. Wir müssen uns nur bewußt machen, daß wir alle im Schoß Ceridwens, der Dreifachen Göttin, geborgen sind.«
    »Denn sie ist sowohl die junge Frau, die am Beginn eines Daseins aufblüht, als auch die Mutter, welche ihrerseits neues Leben schenkt und es behütet, sowie die weise Greisin, die um den wahren Sinn des Sterbens weiß und jeglichen Tod auf dem verschleierten Pfad durch die Tiefen von Annwn hin zur Wiedergeburt führt.« Kigva sprach die Sätze leise aus, fast so, als würde sie ein Gebet an die Große Göttin richten.
    Danach, als die letzten Worte verklungen waren, schwiegen die drei Frauen lange. Nur das Knistern des Torffeuers war in dem runden, heimeligen Raum mit den lehmverstrichenen Wänden und den umlaufenden niedrigen Bänken zu vernehmen; jenes zarte, feine Geräusch, das Branwyn jetzt wieder als beruhigend empfand. Zuletzt stand sie auf, umarmte wortlos Arawn und die andere Frau, die seit beinahe zwanzig Jahren ihre Pflegemutter war, und machte sich daran, den Tisch abzuräumen. Kigva war ihr beim Reinigen des Tongeschirrs und beim Scheuern der Bratpfanne mit Sand behilflich, aber auch Arawn blieb nicht untätig sitzen, sondern leerte nun den Tragesack mit den Heilpflanzen. Sorgsam breitete sie die verschiedenartigen Kräuterbüschel auf einem Teil der Wandbänke aus; bald war das ganze Rundhaus von dem Duft der Blüten, Dolden und Blätter erfüllt.
    »Ceridwen hat dich reich beschenkt«, wandte sich die Alte, nachdem die Arbeit getan war, an Branwyn. »Wir und die Menschen im Dorf, denen die Heilpflanzen nützen werden, haben allen Grund, ihr zu danken. Laßt es uns jetzt in unseren Herzen tun – und es auch morgen früh nicht vergessen, wenn wir die Heilige Quelle aufsuchen, um dort im Angesicht der Göttin die magische Begegnung zwischen Arianrhod und Lug zu erleben.«
    Kigva und Branwyn nickten; sie sandten Ceridwen liebevolle Gedanken, ehe sie das Geschirr auf ein Wandbord stellten und die Pfanne an einen Holzzapfen daneben hängten. Währenddessen dämpfte Arawn das Feuer und begab sich danach in den rückwärtigen Bereich des Raumes zu ihrem Schlafplatz. Auch die beiden jüngeren Frauen bereiteten sich jetzt auf die Nacht vor und suchten sodann ihre Ruhestätten auf. Als Branwyn auf ihrem Teil der umlaufenden Wandbank unter die Schafwolldecke schlüpfte, erhaschte sich noch einen Blick auf Kigva gegenüber und empfand einmal mehr tiefe Zuneigung zu ihr: zu der Frau mit dem runden, gutmütigen Gesicht, die vor beinahe zwanzig Jahren an die Stelle ihrer leiblichen Mutter getreten war …
    Im Halbdunkel des keltischen Rundhauses, unter dessen Reetdach die Reste des Torffeuers allmählich verglimmten, verwich die Gegenwart; Branwyn erinnerte sich an ihre Kindheit und Jugend.
    ***
    Vage – wie stets, wenn sie diese ersten Bilder zu erkennen versuchte, – glaubte sie unter einem Firmament, über das blutrot glühende Zungen zuckten, eine gewaltige, rabenschwarze Bergflanke zu sehen, die sich direkt aus dem Meer erhob. Aber es konnte sich nicht um eine Insel wie die Ynys Vytrin handeln, denn die Konturen eines zerklüfteten Landes erstreckten sich, den Strand ausgenommen, rings um den Gipfel und das dahinterliegende Felsmassiv bis zum Horizont. Und irgendwo dort, vielleicht auch auf dem himmelstürmenden Bergsporn selbst, gab es die von beängstigenden Lichterscheinungen übergossenen Steinquader, die sich zu den zyklopischen Mauerzügen türmten. Dazwischen meinte Branwyn – verstört wegen der unwirklichen, fast dämonischen Bedrohung, die von der urzeitlichen Stadt der Riesen auszugehen schien – kleinere Gebäude zu erblicken: keltische Steinhütten, die ihr vertraut waren und aus deren Dachöffnungen Rauch aufstieg.
    Die dünnen grauen Fäden zerfaserten über den schweigend daliegenden Bergketten – dann wurde die Stille jäh von gellenden Schreien zerrissen. Die Silhouette der Landschaft zersplitterte, an ihre Stelle trat das

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