Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Prolog
S ie hieß Angelina und war ein Kind Kubas, feurig und temperamentvoll wie die meisten Frauen auf der geplagten Insel. Die Kubanerinnen sind bekannt dafür, wie sie sich bewegen. Ob jung oder alt, sie besitzen körperliches Selbstbewusstsein und eine geschmeidige Sinnlichkeit, die sicherlich von ihren afrikanischen Vorfahren stammt. Angelina bildete keine Ausnahme. Ihre Bewegungen waren Furcht erregend, und es raubte einem den Atem, sie zu beobachten.
Doch sie unterschied sich von anderen Hurrikanen. In ihrem Inneren schwelte ein Zorn, der sie heimtückisch und unberechenbar machte. In aller Heimlichkeit suchte sie ihre Zentrifugalkräfte aus einer ungewöhnlich langen Kette von Wettersystemen zusammen, und selbst mit den modernsten Instrumenten war es nicht möglich, ihre Stärke vorherzusagen – ganz zu schweigen davon, wohin sie zog. Auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für den Einfall ins Festland tastete Angelina mit dem diffusen Auge, das sie so gefährlich machte, die Inseln unter sich ab. Kuba war die erste, die von ihrer Grausamkeit heimgesucht wurde.
Es gab Leute in Havanna, die überzeugt waren, eine alte Frau habe Angelina ausgelöst, eine Santera, wie die Priesterinnen der alten afrokubanischen Religion hießen, die auf der Insel ungehindert ausgeübt werden konnte. Die Alte war wohlbekannt für ihre Zauberkünste. Es war jetzt über dreißig jähre her, dass ihre Tochter eines Nachts heimlich auf einem Floß nach Florida geflüchtet war und das Opfermesser der Mutter und ein wertvolles Kruzifix mitgenommen hatte. Die Santera verwand diesen Verrat nie, und je älter sie wurde, desto mehr trieb der Wunsch nach Rache sie an. Seit Jahren erzählte sie ihren Nachbarn im Armenviertel von Havanna, dass sie den Orischas, den Göttern der Yoruba, Blutopfer darbringe, um den schlimmsten aller Stürme heraufzubeschwören, der Florida verheeren und ihre Tochter so demütigen solle, wie sie es verdiene.
In der Nacht, als Angelinas erste verräterische Wolkenfetzen über dem Ozean zu kreisen begannen, erlitt die Santera einen tödlichen Schlaganfall. Deshalb sollte sie nie erfahren, welche Verwüstungen der sich zusammenbrauende Hurrikan anrichten würde. Doch es traf nicht ihre Tochter, welche die Vereinigten Staaten schon längst verlassen hatte, sondern die Tochter ihrer Tochter.
Vielleicht war der Todeszeitpunkt der Alten nur ein gefundenes Fressen für die Abergläubigen, aber in Havanna wurde ihr Name fortan für immer mit der schrecklichen Angelina verbunden.
Auf einer anderen Insel, der südlichsten Spitze der USA, nur 145 Kilometer von Havanna entfernt, bereitete man sich in aller Eile auf Angelina vor. Die meisten Einwohner – »Conchs«, wie sie sich nannten – waren nicht übermäßig besorgt. Tropische Zyklone gehörten zu ihrem Leben dazu, und die Insel lag nicht auf Angelinas direktem Weg. Ihr Einfall ins Land war weiter nördlich vorausgesagt worden, irgendwo zwischen Miami und Fort Lauderdale.
Trotzdem, die Ausläufer des Hurrikans konnten heftig zwischen den im Lebkuchenstil verzierten alten Häusern der Innenstadt, den Hütten der kubanischen Zigarrendreher und den Verschlägen am Ende verborgener Sackgassen in den Vorstädten toben. Deshalb schlössen die Conchs die Fensterläden, füllten ihre Flaschen mit Zisternenwasser und nahmen die Gartenmöbel herein.
Die Bewohner der Houseboat Row hatten für die sommerlichen Stürme eine feste Routine. Sie waren einem größeren Risiko ausgesetzt als ihre auf dem Land wohnenden Nachbarn, aber zugleich waren sie von Natur aus unbekümmerter. Außerdem war es Sonntagmorgen. Mit einem Becher Kaffee oder einer Flasche Bier in Reichweite, zurrten sie in aller Ruhe Topfpflanzen, Liegen, Fahrräder und Ähnliches an der Reling fest. Die Ausläufer des Sturms sollten Key West am Nachmittag erreichen, daher gab es keinen Grund zur Eile. Die vorsichtigeren Bewohner, ältere Menschen und Familien mit Kindern, packten Picknickkörbe, weil sie sich während des böigen Wetters lieber in den Häusern von Freunden auf dem Festland aufhalten wollten.
Wie jeden Sonntag, verbrachten Madeleine und Forrest den Vormittag im Bett. Sie liebten sich, aßen, hörten Musik und lasen Zeitung, wenn auch nicht immer in dieser Reihenfolge. Madeleine mochte diese Stunden wie keine anderen der Woche. Forrest war jemand, der sich ständig beschäftigen musste, und manchmal war es schwierig, ihn dazu zu bringen, innezuhalten und sich zu entspannen. Trotz seiner
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