Die blaue Liste
Wiesbadener Behörde. Zwar waren ihm mit den Festnahmen von Silke Meier-Kahn und
Rolf Heisemann zwei spektakuläre Verhaftungen gelungen, aber jeder Fahnder wusste, Dengler war bei der Spitze des Amtes nicht
sonderlich beliebt. Er galt als schwierig. Zu eigenbrötlerisch. Nicht kommunikationsfähig.
Als der Präsident das Amt mit Managementmethoden zu führen versuchte, wurden jährliche Personalgespräche eingeführt; sie waren
bei den Beamten bald gründlich verhasst. »Sie lassen sich nicht in eine einmal festgelegte Strategie einbinden«, erklärte
Dr. Scheuerle, der Abteilungsleiter Terrorismus, gespreizt, ein ehrgeiziger Schwabe aus Pforzheim.
»Und Sie ändern die Strategie öfter, als sich irgendwer darauf einstellen könnte«, antwortete ihm Dengler.
Seitdem war er bei den Chefs unten durch.
Und doch brauchten sie ihn.
Dengler hatte Silke Meier-Kahn nach nur fünf Monaten Fahndung verhaftet. Scheuerle kam in die Tagesschau und gab Interviews. Er war selig. Aber nicht dankbar. Den schnellen Erfolg schob Dr. Scheuerle dem Glück des Anfängers zu.
Er klopfte Dengler auf die Schulter und sagte ihm, ein Fahnder habe nur einmal im Leben solches Glück. Und am nächsten Vormittag
rief er ihn in sein Büro und übertrug ihm die Fahndung nach Rolf Heisemann.
Damals mochte Dengler seinen Beruf. Er nahm ihn sportlich. Jedenfalls nannte er diese Zeit später so: meine sportliche Phase.
In seinen Tagträumen sah er sich als Hochseefischer, auf der Pirsch nach einem seltenen und gefährlichen Hai. Oder er stellte
sich als einsamen Jäger in der Savanne vor, der einen Menschen mordenden Leoparden zur Strecke bringen musste. Als eine Art
Helden. Sein Wild war gefährlich – und ihm ebenbürtig. Und irgendwann würden sie sichgegenüberstehen. Er wusste nicht, wo das war, aber er würde diesen Ort finden. Deshalb studierte er jede Information; er wollte
alles über sein Opfer wissen.
Drei Monate las er alle Akten und Dossiers über Heisemann. Er gab sich als Rechercheur des Spiegel aus und führte mit dieser Tarnung Gespräche mit Heisemanns Eltern, seinen Kumpeln und seiner damaligen Freundin, die ihm nicht
in den bewaffneten Kampf hatte folgen wollen.
Von ihr bekam er den entscheidenden Hinweis. Er traf sie im Café Starfisch in der Heidelberger Innenstadt. Sie saß an einem Tisch vor dem Fenster zur Straße und schien verhangen von hellbraunen Haaren,
die sie offen und schulterlang trug. Die randlose Brille gab ihr einen intellektuellen Anschein, der jedoch in krassem Gegensatz
zu ihren vollen Lippen stand, ein Gegensatz, der Dengler während des Gesprächs immer wieder verwirrte. Sie bemerkte es nicht,
sondern schien froh zu sein, mit jemandem über ihren früheren Freund reden zu können.
Ein halbes Jahr lang habe sie versucht, ihn vom Sprung in den Untergrund abzubringen. Doch nun hat er gewählt, sagte sie bitter.
Gründe, zur Waffe zu greifen, gäbe es Deutschland genug, aber sie fände es aussichtslos, den Kampf auf militärischem Gebiet
aufzunehmen.
»Man sollte einen übermächtigen Gegner nicht auf dem Gebiet bekämpfen, auf dem er tausendfach überlegen ist«, sagte sie nachdenklich
und nahm einen Schluck Espresso, »man müsste eher seine Schwachstellen suchen.«
»Dann bräuchte Rolf sich jetzt nicht zu verstecken.«
»Ja – und wir wären noch zusammen«, sagte sie, »und wenn er Deutschland so hasst ..«, sie ließ hilflos einen Arm auf die Lehne
des Sessels fallen, »ich wäre mit ihm auch irgendwo anders hingegangen.«
»In ein anderes Land?«
»Ja.«
»Welches?«»Bestimmt – Griechenland«, sagte sie.
»Warum?«
»Rolf reiste schon als Schüler nach Griechenland. Mit dem Rucksack. Er schwärmte von der Gastfreundschaft der griechischen
Bauern, dem Meer und ..«
Sie zögerte einen Augenblick: »In Athen lernten wir uns kennen. Er führte mich zwei Tage durch die Stadt, von Kneipe zu Kneipe,
und überall kannte er Leute.« Dengler verband diese Information mit einer anderen, die er den Akten entnahm. Seine Zielperson
las regelmäßig die Süddeutsche Zeitung. Ein Anruf beim Süddeutschen Verlag in München ergab, in 271 Läden und Kiosken wurde das Blatt in Griechenland verkauft.
Auf dem nächsten Meeting der Fahndungsgruppen verlangte er die Überwachung aller 271 Verkaufsstellen. Dr. Schweikert, sein
unmittelbarer Vorgesetzter, votierte dafür, doch der Präsident und Dr. Scheuerle lehnten rundweg ab: zu teuer, unabsehbarer
Ärger mit
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