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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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unzähligentechnischen Gutachten, studierte eingehend die Bilder aus der illegalen Wohnung in Kaiserslautern.
    Dengler saß bis spät in der Nacht in dem riesigen Büro der Fahnder, las und dachte nach. Er überließ sich den aus den Akten
     aufsteigenden Bildern und vergaß, wie sehr ihm die graue Atmosphäre des Büros zuwider war. Grau. Aus grauem Plastik bestand
     die Resopalplatte seines Schreibtisches. Grau war das Gehäuse des Computers. Grau der Bildschirm. Grau der Drucker. Hellgrau
     der Teppich und die Jalousie. Grau die genormten Bürostühle mit Armlehnen und hohen Rückstützen (die Sekretärinnen saßen auf
     gleich grauen Stühlen, jedoch ohne Armlehnen). Selbst die blauen Jeans, die einige der anwesenden Kollegen trugen, wirkten
     grau. Hell allein war der Gedanke, der sich in seinem Hirn formte. Hell und orange. Dengler kannte das Gefühl, wenn sich ein
     wichtiger Gedanke Bahn brach. Es war zunächst nur ein kleiner Druck im Hinterkopf, der sich ausdehnte, sich nach vorne arbeitete
     und schließlich zu einem Begriff wurde. Er konnte warten, bis es so weit war, oder er konnte den Druck verscheuchen.
    Setz dich hin und denk nach.
    Wenn er dachte, verschwamm, was er sah: die Buchstaben der Akten, die Bäume draußen im Hofe des Amtes und sogar das Deep-Purple-Poster,
     das irgendein Kollege der Nachtschicht an die Trennwand geheftet hatte.
    Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und überließ sich dem werdenden Gedanken. Einen Augenblick überlegte er, ob er die
     Füße auf den Schreibtisch legen sollte, aber er blieb ruhig sitzen.
    Denk nach!
    Greschbachs Leben. Und sein eigenes. Der Gegenentwurf. Greschbachs Leben, das ihm aus all den Ordnern entgegenquoll, las sich
     wie ein ausgedachter Gegenentwurf seines eigenen Lebens.
    War das wichtig? Er wusste es nicht.
    Dengler richtete sich auf und nahm den ersten Ordner noch einmal in die Hand.
    Greschbach war nur vier Jahre jünger als er, war nur wenige Kilometer entfernt von ihm aufgewachsen – und doch lagen unüberbrückbare
     Gegensätze zwischen ihnen. Nie wären sie sich begegnet. Seine Zielperson wuchs in Freiburg auf, einer Großstadt mit über 200
     000 Einwohnern. Dengler wurde in Altglashütten geboren, einem Dorf mit wenigen hundert Bewohnern, fast alle Bauern. Greschbachs
     Vater hatte erklärt, er habe seinem Sohn schon mit vier Jahren eine feste Summe als Taschengeld ausbezahlt, damit der Junge
     den Umgang mit Geld trainieren könne. Dengler las die Stelle noch einmal, da stand tatsächlich »trainieren«. Wie sollte das
     gehen? Heute üben wir, zehn Mark für Eis auszugeben?
    Georg hatte nie Taschengeld bekommen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich bis heute nicht mit Geld umgehen kann, dachte
     er.
    Von klein auf hatte er auf dem Hof helfen müssen. Als kleiner Junge hütete er die Schweine der Mutter auf der Sommerwiese,
     nahe dem Dorf. Die Tiere suchten sich ihr Futter selbst, ernährten sich von Wurzeln oder dem Getier, das sie beim Aufwühlen
     der Wiese ans Tageslicht beförderten: Engerlinge, aber auch Mäuse, wenn sie nicht schnell genug flohen. Für die Mutter war
     es billiger, die Schweine auf eine Wiese zu führen, als sie im Stall zu füttern. Ein paar Pfennige verdiente er dazu, als
     er auch die Sauen des Birklerbauern mitnahm.
    Es war eine einsame und anstrengende Arbeit gewesen, vor allem solange die Tiere Hunger hatten. Sie besaßen keinen ausgeprägten
     Herdeninstinkt, sondern jedes Schwein lief hierhin oder dorthin, und der kleine Georg, bewaffnet mit einer langen Gertenrute,
     rannte hinterher, um zu verhindern, dass sich eines aus dem Staub machte. Trotzdem gelang es hin und wieder einem Ferkel,
     seiner Aufsicht zu
    entkommen. Meist liefen sie nicht weit, doch die Gefahr war groß, dass die Herde sich auflöste, wenn er nicht jederzeit aufpasste.
     Deshalb umkreiste er rennend unaufhörlich die Herde, bis die Tiere endlich genug gefressen hatten und sich ins Gras niederlegten.
    Er wunderte sich damals, die Tiere fraßen buchstäblich alles. Einmal erwischte er zwei Sauen, die einen toten Fuchs unter
     einem großen Weißdornbusch hervorzerrten und sich in aller Ruhe über den Kadaver hermachten. Widerlich, das schmatzende Geräusch
     der Tiere, das Krachen der Knochen; er erinnerte sich deutlich an den Ekel, den er beim Anblick der fressenden Viecher empfand.
     Damals konnte er nicht anders, er übergab sich, und sofort interessierte sich eine große Muttersau für seine Kotze. Voller
     Panik

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