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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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prügelte er auf die überrascht quiekenden Schweine ein und trieb sie ein Stück die Wiese hinauf, wo sie sich beruhigten
     und schließlich wieder den Boden auf der Suche nach Wurzeln aufrissen.
    Erst wenn die Herde satt war, konnte er seinen eigenen Gedanken nachhängen. Das gefiel ihm. War er einsam gewesen? Dengler
     wusste es nicht mehr, aber erinnerte sich daran, dass er seit diesen Tagen das Gefühl der Einsamkeit nie wieder ganz verlor.
     Auch schien es ihm, er müsse länger als andere nachdenken, bevor er etwas sagen könne. Er bewunderte seinen Klassenkameraden,
     den Sohn des Apothekers, der einfach losredete, scheinbar ohne nachzudenken. Vielleicht konnte der aber nur schneller begreifen.
     Dengler konnte nie gleichzeitig reden und denken. Das war in der Schule schon so gewesen, und er hatte sich in diesem Punkt
     nicht geändert.
    Hätte er Greschbach damals gekannt, wäre ihm dessen Leben wie das eines Prinzen vorgekommen. Seine Familie bewohnte ein dreistöckiges
     Haus im vornehmen Freiburger Stadtteil Herdern, zu dem ein verwilderter Garten gehörte. Aus dem Vernehmungsprotokoll des Vaters
     erfuhr Dengler,
    dass zum Geburtstag stets ein Kinderfest veranstaltet wurde, zu dem die Kinder aus der Nachbarschaft und der Verwandtschaft
     kamen. Es gab Fangspiele, Limonade; und am Abend wurde jedes Kind mit einem kleinen Lampion-Umzug nach Hause gebracht.
    In den Vernehmungsprotokollen der Kindergärtnerin las Dengler, dass der Vater die zentrale Figur in Greschbachs Kindheit war.
     Er sei als Kind altklug gewesen, und »Mein Papa hat gesagt ...« sei für Roman die höchste Form der Weisheit und Autorität
     gewesen, vergleichbar mit dem »Das hab ich im Fernsehen gesehen ..« der heutigen Kinder.
    Dengler erinnerte sich kaum noch an den eigenen Vater. Einige wenige Bilder gab es, die er sich oft ins Gedächtnis rief, wie
     einen Schatz, der sich verflüchtigt, wenn er nicht regelmäßig betrachtet wird. Da saß der Vater ruhig am frühen Morgen, nachdem
     er die Kühe gefüttert hatte und die Mutter nun im Stall war und molk – da saß er in seiner Arbeitshose am Küchentisch, am
     Oberkörper nur ein geripptes Unterhemd, über das breite, braune Hosenträger liefen, und er trank den Kaffee, den die Mutter
     vorher gekocht und auf die Herdplatte gestellt hatte. Georg durfte auf seinen Knien sitzen. Um den Vater war immer ein Geruch
     von Tabak und Heu, von Milch und Kühen, den er still genoss. Vater und Sohn sprachen nicht, sondern sahen dem Dampf zu, der
     aus dem Becher stieg, um sich in immer neuen Mustern aufzulösen. Diese Minuten der schweigenden Zugehörigkeit waren die beglückendste
     Erinnerung an seine Kindheit.
    Sicher, es gab noch einige unklare Bilder vom sonntäglichen Kirchgang, die Unbehaglichkeit des Vaters in dem groben schwarzen
     Anzug. Wie er ihn an die Hand nahm, sie dann hinüber zur Kirche gingen und Georg sich immer allein auf der rechten, der Männerseite,
     in einer der vorderen Kirchenbänke einen Platz suchen musste, während der Vater sich hinter ihn setzte, zu den Männern des
     Dorfes. Wenn Georg sich dann herumdrehte, manchmal schnell und für den
    Vater unerwartet – immer ruhten dessen Augen auf ihm, und immer mit dem stillen Lachen, in dem er sich so zu Hause fühlte.
    Sein Vater sprach nie über Gefühlsdinge, und doch hatte Georg von ihm die kleine Sprache der Liebe gelernt: den Blick, das
     Lächeln, die Geste, die Gewissheit.
    Dann kam der Tag, den er vergessen möchte und den er manchmal, an glücklichen Tagen, tatsächlich vergaß. Aber schlimme Erinnerung
     lässt sich nicht tilgen, durch keine Anstrengung der Welt. Und die Erinnerung an das Unglück an jenem Tag beginnt mit dem
     warmen Geruch von Heu. Er kroch auf allen Vieren über die Tenne, spielte die grauweiße Katze, die sich regelmäßig auf den
     Scheunenboden zurückzieht, wenn sie Junge bekommt. Welch ein sicheres Gefühl das war, so hoch oben, wenn der Vater da war,
     der breitbeinig mit der Gabel das Heu für die Kühe aufspießte. Eine Drehung mit dem Oberkörper, sicher und elegant, dann warf
     er es durch eine der beiden offenen Dachluken hinunter auf den Scheunenboden. Ein Kindheitstraum. Georg rutschte auf dem Boden
     hin und her und wühlte sich durch das Heu, baute Gänge wie ein Maulwurf. Plötzlich schrie der Vater. Bleib stehen, schrie
     er, und rühr dich nicht! Und rannte zu ihm hin. Georg wusste nicht, warum er stehen bleiben sollte, deshalb blieb er nicht
     stehen, und der Vater

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