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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Eisenbahnschienen und Güterwagenminiaturen, mehrere mehr oder weniger mitgenommene Puppen, Puppenstuben, in denen Unordnung herrschte, kurz, ein Überangebot an Spielzeug verriet, daß der Oberpostsekretär Naczalnik Vater zweier reichlich verwöhnter Kinder, eines Jungen und eines Mädchens sein mußte. Wie gut, daß die Gören nach Warschau evakuiert worden waren, daß mir eine Begegnung mit ähnlichem Geschwisterpaar, wie ich es von den Bronskis her kannte, erspart blieb. Mit leichter Schadenfreude stellte ich mir vor, wie es dem Bengel des Oberpostsekretärs leid getan haben mochte, von seinem Kinderparadies voller Bleisoldaten Abschied nehmen zu müssen. Vielleicht hatte er sich einige Ulanen in die Hosentasche gesteckt, um späterhin, bei den Kämpfen um die Festung Modlin, die polnische Kavallerie verstärken zu können.
    Oskar redet zuviel von Bleisoldaten und kann sich dennoch nicht an dem Geständnis vorbeidrücken: auf dem obersten Tablar eines Gestelles für Spielzeug, Bilderbücher und Gesellschaftsspiele reihten sich Musikinstrumente in kleinem Format. Eine honiggelbe Trompete stand tonlos neben einem, den Kampfhandlungen gehorchenden, das heißt, bei jedem Granateneinschlag bimmelnden Glockenspiel.
    Rechts außen zog sich schief und buntbemalt eine Ziehharmonika in die Länge. Die Eltern waren überspannt genug gewesen, ihrem Nachwuchs eine richtige kleine Geige mit vier richtigen Geigensaiten zu schenken. Neben der Geige stand, ihr weißes unbeschädigtes Rund zeigend, durch einige Bauklötze blockiert, so am Davonrollen gehindert, eine — man mag es nicht glauben wollen — weißrot gelackte Blechtrommel.
    Ich versuchte erst gar nicht, die Trommel mit eigener Kraft vom Gestell herunterzuziehen. Oskar war sich seiner beschränkten Reichweite bewußt und erlaubte sich in Fällen, da seine Gnomenhaftigkeit in Hilflosigkeit überschlug, Erwachsene um Gefälligkeiten anzugehen.
    Jan Bronski und Kobyella lagen hinter Sandsäcken, die die unteren Drittel der bis zum Fußboden reichenden Fenster füllten. Jan gehörte das linke Fenster. Kobyella hatte rechts seinen Platz. Sofort begriff ich, daß der Hausmeister jetzt kaum die Zeit hätte, meine Trommel, die unter dem Blut spuckenden Verwundeten lag und sicherlich mehr und mehr zusammengedrückt wurde, hervorzuziehen und zu reparieren; denn der Kobyella war vollauf beschäftigt: in regelmäßigen Abständen schoß er mit seinem Gewehr durch eine im Sandsackwall ausgesparte Lücke über den Heveliusplatz in Richtung Ecke Schneidermühlengasse, wo kurz vor der Radaunebrücke ein Pak— Geschütz Stellung bezogen hatte.
    Jan lag zusammengekauert, hielt den Kopf verborgen und zitterte. Ich erkannte ihn nur an seinem eleganten, nun jedoch mit Kalk und Sand bestäubten, dunkelgrauen Anzug. Die Schnürsenkel seines rechten, gleichfalls grauen Schuhes hatten sich gelöst. Ich bückte mich und band sie ihm zur Schleife.
    Als ich die Schleife anzog, zuckte Jan, schob sein viel zu blaues Augenpaar über den linken Ärmel und starrte mich unbegreiflich blau und wäßrig an. Obgleich er, wie Oskar sich flüchtig prüfend überzeugte, nicht verwundet war, weinte er lautlos. Jan Bronski hatte Angst. Ich ignorierte sein Geflenne, wies auf die Blechtrommel des evakuierten Naczalnikschen Sohnes und forderte Jan mit deutlichen Bewegungen auf, bei aller Vorsicht und den toten Winkel des Kinderzimmers nutzend, sich an das Gestell heranzumachen, mir das Blech herunterzulangen. Mein Onkel verstand mich nicht.
    Mein mutmaßlicher Vater begriff mich nicht. Der Geliebte meiner armen Mama war mit seiner Angst so beschäftigt und ausgefüllt, daß meine ihn um Hilfe angehenden Gesten allenfalls geeignet waren, seine Angst zu steigern. Oskar hätte ihn anschreien mögen, mußte aber befürchten, vom Kobyella, der nur auf sein Gewehr zu hören schien, entdeckt zu werden.
    So legte ich mich links neben Jan hinter die Sandsäcke, drückte mich an ihn, um einen Teil meiner mir geläufigen Gleichmut auf den unglücklichen Onkel und mutmaßlichen Vater zu übertragen. Bald darauf wollte er mir auch etwas ruhiger vorkommen. Es gelang meinem regelmäßig betonten Atem, seinem Puls eine ungefähre Regelmäßigkeit zu empfehlen. Als ich dann allerdings viel zu früh Jan ein zweites Mal auf die Blechtrommel des Naczalnik Junior aufmerksam machte, indem ich seinen Kopf zwar langsam und sanft, schließlich bestimmt in Richtung des mit Spielzeug überladenen Holzgestelles zu drehen versuchte,

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