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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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bemerkt? Er, der sonst so streng und unnahbar sein konnte, wie nur Kriegsinvaliden einen gewissen respektvollen Abstand herausfordern können, ließ mich in dieser windigen Bude, deren Luft bleihaltig war. Dachte Kobyella etwa: das ist ein Kinderzimmer, folglich darf Oskar hier bleiben und während der Gefechtspausen spielen?
    Ich weiß nicht, wie lange wir so lagen: ich zwischen Jan und der linken Zimmerwand, wir beide hinter den Sandsäcken, Kobyella hinter seinem Gewehr, für zwei schießend. Etwa gegen zehn Uhr ebbte das Feuer ab. So still wurde es, daß ich Fliegen brummen hörte, Stimmen und Kommandos vom Heveliusplatz her vernahm und der dumpf grollenden Arbeit der Linienschiffe im Hafenbecken zeitweilig Gehör schenkte. Ein heiterer bis wolkiger Septembertag, die Sonne pinselte Altgold, hauchdünn alles, empfindlich und dennoch schwerhörig. Es stand in den nächsten Tagen mein fünfzehnter Geburtstag bevor. Und ich wünschte mir, wie jedes Jahr im September, eine Blech trommel, nichts Geringeres als eine Blech trommel; auf alle Schätze dieser Welt verzichtend, richtete sich mein Sinnen nur und unverrückbar auf eine Trommel aus weißrot gelacktem Blech.
    Jan rührte sich nicht. Kobyella schnaufte so gleichmäßig, daß Oskar schon annahm, er schlafe, nehme die kurze Kampfpause zum Anlaß für ein Nickerchen, weil schließlich alle Menschen, selbst Helden dann und wann eines erfrischenden Nickerchens bedürfen. Nur ich war hellwach und mit aller Unerbittlichkeit meines Alters auf das Blech aus. Nicht etwa, daß mir erst jetzt, während zunehmender Stille und absterbendem Gebrumm einer vom Sommer ermüdeten Fliege, die Blech trommel des jungen Naczalnik wieder in den Sinn gekommen wäre. Oskar hatte sie auch während des Gefechtes, umtobt vom Kampflärm, nicht aus dem Auge gelassen. Jetzt aber wollte sich mir jene Gelegenheit zeigen, die zu versäumen mir jeder Gedanke verbot.
    Oskar erhob sich langsam, bewegte sich leise, Glasscherben ausweichend, dennoch zielstrebig auf das Holzgestell mit dem Spielzeug zu, türmte in Gedanken aus einem Kinderstühlchen mit draufgestelltem Baukasten schon ein Podest, das hoch und sicher genug gewesen wäre, ihn zum Besitzer einer funkelnagelneuen Blechtrommel zu machen, da holte mich Kobyellas Stimme und gleich darauf des Hausmeisters trockener Griff ein. Verzweifelt wies ich auf die so nahe Trommel. Kobyella zerrte mich zurück. Mit beiden Armen verlangte ich nach dem Blech. Der Invalide zögerte schon, wollte schon hochlangen, mich glücklich machen, da griff Maschinengewehrfeuer ins Kinderzimmer, vor dem Portal detonierten Panzerabwehrgranaten; Kobyella schleuderte mich in die Ecke zu Jan Bronski, goß sich wieder hinter sein Gewehr und lud schon zum zweitenmal durch, als ich noch immer mit den Augen bei der Blechtrommel war.
    Da lag Oskar, und Jan Bronski, mein süßer blauäugiger Onkel, hob nicht einmal die Nase, als mich der Vogelkopf mit dem Klumpfuß und dem Wasserblick ohne Wimpernwuchs kurz vor dem Ziel beiseite, in jene Ecke hinter die Sandsäcke wischte. Nicht etwa, daß Oskar weinte! Wut vermehrte sich in mir.
    Fette, weißbläuliche, augenlose Maden vervielfältigten sich, suchten nach einem lohnenden Kadaver: was ging mich Polen an! Was war das, Polen? Die hatten doch ihre Kavallerie! Sollten sie reiten! Die küßten den Damen die Hände und merkten immer zu spät, daß sie nicht einer Dame die müden Finger, sondern einer Feldhaubitze ungeschminkte Mündung geküßt hatten. Und da entlud sie sich schon, die Jungfrau aus dem Geschlecht der Krupp. Da schnalzte sie mit den Lippen, imitierte schlecht und doch echt Schlachtgeräusche, wie sie in Wochenschauen zu hören sind, pfefferte ungenießbare Knallbonbons gegen das Hauptportal der Post, wollte die Bresche schlagen und schlug die Bresche und wollte durch die aufgerissene Schalterhalle hindurch das Treppenhaus anknabbern, damit keiner mehr rauf, keiner runter konnte. Und ihr Gefolge hinter den Maschinengewehren, auch die in den eleganten Panzerspähwagen, die so hübsche Namen wie »Ostmark« und »Sudetenland« draufgepinselt trugen, die konnten nicht genug bekommen, fuhren ratternd, gepanzert und spähend vor der Post auf und ab: zwei junge bildungsbeflissene Damen, die ein Schloß besichtigen wollten, aber das Schloß hatte noch geschlossen. Das steigerte die Ungeduld der verwöhnten, immer Einlaß begehrenden Schönen und zwang sie, Blicke, bleigraue, durchdringliche Blicke vom selben Kaliber in alle

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