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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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verstand mich Jan abermals nicht. Angst besetzte ihn von unten nach oben, flutete von oben nach unten zurück, fand unten, vielleicht wegen der Schuhsohlen mit Einlagen, so starken Widerstand, daß die Angst sich Luft machen wollte, aber zurückprallte, über Magen, Milz und Leber flüchtend in seinem armen Kopf dergestalt Platz nahm, daß ihm die Blauaugen vorquollen und verzwickte Äderchen im Weiß zeigten, die Oskar am Augapfel seines mutmaßlichen Vaters wahrzunehmen zuvor nicht Gelegenheit gefunden hatte.
    Es kostete mich Mühe und Zeit, die Augäpfel des Onkels zurückzutreiben, seinem Herzen einigen Anstand beizubringen. All mein Fleiß im Dienste der Ästhetik war jedoch umsonst, als die Leute von der Heimwehr zum erstenmal die mittlere Feldhaubitze einsetzten und in direktem Beschuß, durchs Rohr visierend, den Eisenzaun vor dem Postgebäude flach legten, indem sie einen Ziegelpfeiler nach dem anderen mit bewundernswerter Genauigkeit, ein hohes Ausbildungsniveau verratend, ins Knie schlugen und zum endgültigen, das Eisengitter mitreißenden Kniefall zwangen. Mein armer Onkel Jan erlebte jeden Sturz der fünfzehn bis zwanzig Pfeiler mit Herz und Seele und so leidenschaftlich betroffen mit, als stieße man nicht nur Sockel in den Staub, sondern hätte mit den Sockeln auch auf den Sockeln stehende imaginäre, dem Onkel vertraute und lebensnotwendige Götterbilder gestürzt.
    Nur so läßt sich erklären, daß Jan jeden Treffer der Haubitze mit schrillem Schrei quittierte, der, wäre er nur bewußter und gezielter geformt gewesen, gleich meinem glastötenden Schrei die Tugend eines scheibenschneidenden Diamanten gehabt hätte. Zwar schrie Jan inbrünstig, aber doch planlos und erreichte schließlich nur, daß der Kobyella seinen knochigen, invaliden Hausmeisterkörper zu uns herüberwarf, seinen mageren, wimpernlosen Vogelkopf hob und wäßrig graue Pupillen über unserer Notgemeinschaft bewegte. Er schüttelte Jan. Jan wimmerte. Er öffnete ihm das Hemd, suchte hastig Jans Körper nach einer Verwundung ab — fast hätte ich lachen müssen —, drehte ihn dann, als sich auch nicht die geringste Verletzung finden ließ, auf den Rücken, packte Jans Kinnlade, verschob die, ließ sie knacken, zwang Jans blauen Bronskiblick, das wäßrig graue Flackern der Kobyellalichter auszuhalten, fluchte ihm polnisch und Speichel sprühend ins Gesicht und warf ihm schließlich jenes Gewehr zu, welches Jan vor seiner extra für ihn ausgesparten Schießscharte bisher unbenutzt hatte liegen lassen; denn die Flinte war nicht einmal entsichert. Der Gewehrkolben schlug trocken gegen seine linke Kniescheibe. Der kurze und nach all den seelischen Schmerzen erstmals körperliche Schmerz schien ihm gut zu tun, denn er faßte das Gewehr, wollte erschrecken, als er die Kälte der Metallteile in den Fingern und gleich darauf im Blut hatte, kroch dann jedoch, vom Kobyella halb fluchend, halb zuredend angefeuert, auf seine Schießscharte zu.
    Mein mutmaßlicher Vater hatte eine solch genaue und bei all seiner weich üppigen Phantasie realistische Vorstellung vom Krieg, daß es ihm schwerfiel, ja, unmöglich war, aus mangelnder Einbildungskraft mutig zu sein. Ohne daß er sein Schußfeld durch die ihm zugewiesene Schießscharte wahrgenommen und ein lohnendes Ziel suchend abgetastet hätte, schoß er, das Gewehr schräg, weit von sich und über die Dächer der Häuser am Heveliusplatz richtend, schnell und blindlings ballernd sein Magazin leer, um sich abermals und mit ledigen Händen hinter den Sandsäcken zu verkriechen.
    Jener um Nachsicht bittende Blick, den Jan dem Hausmeister aus seinem Versteck zuwarf, las sich wie das schmollend verlegene Schuldbekenntnis eines Schülers ab, der seine Aufgaben nicht gemacht hatte. Kobyella klappte mehrmals mit dem Unterkiefer, lachte dann laut, wie unaufhörlich, brach beängstigend plötzlich das Gelächter ab und trat Bronski, der ja als Postsekretär sein Vorgesetzter war, drei oder viermal gegen das Schienbein, holte schon aus, wollte Jan seinen unförmigen Schnürschuh in die Seite knallen, ließ aber, als Maschinengewehrfeuer die restlichen oberen Scheiben des Kinderzimmers abzählte und die Decke aufrauhte, den orthopädischen Schuh sinken, warf sich hinter sein Gewehr und gab mürrisch und hastig, als wollte er die mit Jan verlorene Zeit einholen, Schuß auf Schuß ab — was alles dem Munitionsverbrauch während des zweiten Weltkrieges zuzuzählen ist.
    Hatte der Hausmeister mich nicht

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