Die blonde Witwe
Telefonzelle brannte Licht. Ich hätte die Polizei anrufen können. Kommen Sie bitte zum Bahnhof, im Zug sitzt ein Mann, der sich erschossen hat. Einhängen und heimfahren.
Aber die dreitausend Mark!
Man würde bei ihm die restlichen halbierten Hunderter finden. Und außerdem hatte ich es ihm fest versprochen. Es konnte mir nichts passieren.
In der Ferne entdeckte ich die Lichter des Zuges, der noch nicht zu hören war. Langsam kamen sie näher. Vielleicht hatte der Zugführer den Toten schon entdeckt?
Es schien mir plötzlich unmöglich, in einem Zug zu schießen, ohne daß es jemand merkte.
Hinter der Station wurde es hell; die Lichtbündel eines Autoscheinwerfers glitten über die Bäume. Ich hörte einen Motor brummen. Dann erstarb das Brummen, das Licht erlosch. Stille. War das schon die Polizei?
Meine Finger wurden feucht. In meinen Beinen kribbelten Ameisen. Der Zug kam näher. Jetzt hörte ich die Räder auf den Schienen.
Der Zug hielt. Er blieb mit dem letzten Wagen direkt vor mir stehen. Zwei oder dreimal hörte ich lautes Türenschlagen. Es klang wie Schüsse.
Heiser und verschlafen rief der Zugführer die Station aus.
Mein Hirn war abgeschaltet. Ich konnte in diesem Augenblick nichts mehr denken, nur noch handeln. Es trieb mich vorwärts. Ich konnte nicht mehr zurück.
Mit einem Satz war ich über den Zaun gesprungen, hatte mich aufs Trittbrett des letzten Wagens geschwungen und spähte auf den hellen Bahnsteig hinaus.
Ein paar Leute gingen durch die Sperre. Keine Aufregung, keine Polizei.
Der Zugführer winkte zum Fahrstand des Triebwagens, lief zum Zug. Wieder schlug eine Tür.
Sanft setzte sich der Zug in Bewegung.
Er ist nicht da, sagte ich mir, er ist bestimmt nicht drin. Irgendwie wird sich alles aufklären und irgendwie wird er sein Geld zurückbekommen.
Er ist drin, sagte ich mir, er ist bestimmt drin. Mit solchen Dingen scherzt kein Mensch. Der Plan ist viel zu genau ausgedacht, und niemand zerreißt dreitausend Mark und gibt die Hälften einem Unbekannten für nichts und wieder nichts. Er ist drin...
Ich öffnete die Tür zum Gang, trat ein und wartete. Dann ging ich Schritt für Schritt durch den Wagen. Vor jedem neuen Abteil blieb ich stehen und blickte erst einmal vorsichtig hinein.
Es war ein neuer Wagen; er schlingerte nicht, lief fast geräuschlos auf den Schienen.
Da war ein Liebespärchen, eng umschlungen und viel zu sehr mit sich beschäftigt, um auf den Mann zu achten, der vorbeiging.
Ich ging vorbei.
Eine alte Frau mit einem Korb auf dem Schoß, die Hände über dem Henkel gefaltet. Sie schlief.
Ich ging vorbei.
Ein Mann las in einem Buch. Als er aufblickte war ich schon vorbei.
Zwei Männer, die sich angeregt unterhielten, so angeregt, daß ich mich sicher fühlte und vorbeiging.
Die Räder des Zuges fingen an, in meinem Kopf zu dröhnen. Hundert Jahre schon fuhr ich in diesem Zug, der tausend Abteile hatte. Ich war der Gefangene dieses Zuges, konnte nicht fliehen, und die Räder dröhnten in meine Ohren. Ich war ein Mörder geworden, ich war der Mann geworden, der den Hotelier erschossen hatte und nun zurückkehren mußte, um die vergessene Pistole zu holen. Wenn sie mich erwischten, gab es Lebenslänglich. Raubmord würden sie sagen, dreitausend Mark hat er erbeutet.
Die vordere Tür wurde aufgeschoben. Ein Bursche trat in den Gang, auf dem ich mich wie zu meiner Todeszelle fortbewegte.
Ich riß das Fenster herunter und beugte mich hinaus. Als der Bursche sich an mir vorbeidrückte, hörte ich ihn sagen: »Kumpel — hast du Feuer?«
Ich würgte laut, um ihn loszuwerden, spürte einen freundschaftlich verstehenden Klaps auf meiner Schulter, dann ging er weiter.
Ich auch.
Wie würde meine Beschreibung im Steckbrief lauten?
Ein Mann, etwa dreißig Jahre alt, dunkelblonder Haarschopf. Nein, ich trug ja eine Mütze.
Und ich hatte vergessen, meine Handschuhe anzuziehen.
Selbstverständlich würden sie den ganzen Zug nach Fingerabdrücken absuchen. Ich zog meine Handschuhe an, trat auf die Plattform, atmete auf.
Er war nicht drin. Es gab keinen toten Hotelier.
Aber da war noch ein Wagen.
Und gleich im ersten Abteil fand ich ihn.
Zusammengesunken hockte er am Fenster, den Hut tief übers Gesicht gezogen. Es sah aus, als schliefe er. Der Hut war alt und durchgeschwitzt, der Mantel abgewetzt. An den Füßen hatte er grobe Stiefel.
Ich sah nirgends eine Pistole liegen. Als ich zu ihm trat, fing er laut an zu schnarchen. Tote schnarchen nicht. Es war nicht
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