Vor dem Fest
WIR SIND TRAURIG. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.
Um den See kannst du theoretisch zu Fuß, immer am Ufer entlang. Allerdings haben wir den Pfad vernachlässigt. Der Boden ist sumpfig und die Stege morsch und unglücklich, das Gebüsch hat sich ausgebreitet, brusthoch steht es dem Pfad im Weg.
Die Natur erobert sich zurück, was ihr gehört. Würde man woanders sagen. Wir sagen das nicht. Weil es Unfug ist. Die Natur ist inkonsequent. Auf die Natur ist kein Verlass. Und auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen.
Unterhalb der Ruine von Schielkes ehemaligem Hof, wo der See die Landstraße zärtlich berührt, hat jemand seinen halben Hausrat am Ufer entsorgt. Ein Kühlschrank steckt im matschigen Grund, eine Dose Tunfisch noch darin. Der Fährmann hat es uns erzählt. Und dass er wütend geworden sei. Nicht wegen des Abfalls generell, sondern wegen Tunfisch speziell.
Jetzt ist der Fährmann tot, und wer uns erzählen soll, was die Ufer treiben, wissen wir nicht. Wer soll so schön sagen: »Wo der See die Landstraße zärtlich berührt«, und: »Das war Tunfisch aus den fernen Meeren Norwegens.« Solche Sätze können nur Fährleute.
Wir haben uns seit der Wende keine gute Redewendung mehr ausgedacht. Der Fährmann war ein guter Erzähler. Glaub aber ja nicht, dass wir in diesem Moment der Schwäche den Tiefen See, der ohne den Fährmann noch tiefer geworden ist, nach seinem Befinden fragen. Oder den Großen See, der den Fährmann ertränkt hat, nach seinem Motiv.
Wie der Fährmann ertrank, hat niemand gesehen. Besser ist es. Was willst du beim Ertrinken auch sehen? Schön ist das nicht. Er muss am Abend hinausgefahren sein, auf dem See lag Nebel. In der Morgendämmerung trieb ein Kahn auf dem Wasser, leer und vergeblich wie ein Abschiedsgruß ohne ein Gegenüber.
Taucher sind gekommen. Frau Schwermuth hat ihnen Kaffee gemacht, sie haben den Kaffee getrunken und auf den See gesehen, und dann sind sie in den See gestiegen und haben den Fährmann rausgeholt. Große Männer, blond und wortkarg, Verben nur im Imperativ, verladen den Fährmann. Stehen am Ufer in ihren engen Anzügen, schwarz und steif wie Ausrufezeichen, gesetzt vom Tod. Essen vegetarische Brote, tropfen.
Der Fährmann wurde begraben, und der Glöckner hat seinen Einsatz verpasst, anderthalb Stunden später hat es geläutet, da waren alle schon beim Beerdigungskuchen im Gleis 1 . Ohne Hilfe kommt der Glöckner ja kaum noch eine Treppe hoch. Letztens hat er um Viertel nach zwölf die Glocke achtzehn Mal schlagen lassen und sich auch noch die Schulter ausgekugelt. Dabei haben wir eine Läutautomatik und Johann, den Lehrling. Beide mag der Glöckner aber nicht besonders.
Es gehen mehr tot, als geboren werden. Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen. Im Frühling haben wir den Stundentakt vom 419er eingebüßt. Die Leute sagen, ein paar Generationen noch, länger geht das hier nicht. Wir glauben: Es wird gehen. Es ist immer irgendwie gegangen. Pest und Krieg, Seuche und Hungersnot, Leben und Sterben haben wir überlebt. Irgendwie wird es gehen.
Bloß ist jetzt der Fährmann tot. An wen sollen die Trinker sich wenden, wenn Ulli sie rausgeschmissen hat? Wer soll für die Gäste aus dem Großraum Berlin Schatzschnitzeljagden auf den Inseln so gut veranstalten, dass kein Schatz je gefunden wird und danach die Kinder auf der Fähre leise heulen und die Mütter sich höflich beim Fährmann beschweren und die Väter Tage noch grübeln, wo man den Fehler gemacht hat, und erst die neuen Bundesländer, dann ihre Männlichkeit in Frage stellen, und am Ufer angekommen, essen sie einen Apfel und radeln auf ihren desillusionierten Fahrrädern weiter Richtung Ostsee und kommen niemals wieder? Wer?
Der Fährmann ist tot, und die anderen Toten wundern sich, was soll ein Fährmann unter der Erde? Er hätte ordentlich im See bleiben sollen und gut.
Niemand sagt, ich bin der neue Fährmann. Die wenigen, die verstehen, dass wir unbedingt einen neuen Fährmann brauchen, verstehen nichts von Fähren. Oder davon, wie man Gewässer tröstet. Oder sie sind zu alt. Andere tun so, als hätten wir niemals einen Fährmann gehabt. Die
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