Die Blutlinie
Luft rang. Zwei andere morgendliche Geister starrten zu mir herüber, dann wandten sie die Blicke ab. Ich richtete mich auf, wischte mir über den Mund und stieß die Tür zum Laden auf.
»Eine Packung Zigaretten bitte«, sagte ich zu dem Inhaber, noch immer völlig außer Atem. Er war Mitte fünfzig, vermutlich ein Inder.
»Welche Marke möchten Sie?«
Die Frage verblüffte mich. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geraucht. Ich starrte auf die Reihen hinter ihm, und mein Blick blieb an den früher geliebten Marlboros hängen.
»Marlboros. Rote.«
Er legte eine Packung vor mir auf den Tresen und tippte den Preis in seine Registrierkasse. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich in Joggingsachen unterwegs war und kein Geld bei mir hatte. Statt verlegen zu sein, reagierte ich wütend.
»Ich hab meinen Geldbeutel vergessen«, sagte ich mit trotzig vorgerecktem Kinn. Provozierend. Ich forderte ihn heraus, mir die Zigaretten nicht zu geben oder mich auf irgendeine Weise lächerlich zu machen.
Er musterte mich einen Moment lang. Es war wohl das, was Schriftsteller eine »prägnante Pause« nennen. Dann entspannte er sich.
»Sie waren laufen?«, fragte er.
»Ja. Bin davongelaufen vor meinem toten Mann. Vermutlich besser, als mich umzubringen, ha-ha.«
Die Worte klangen merkwürdig in meinen Ohren. Ein wenig laut, ein wenig erstickt. Ich nehme an, ich war ein wenig verrückt. Doch statt zusammenzuzucken oder mir einen unbehaglichen Blick zuzuwerfen, den ich mir so sehr wünschte in jenem Moment, wurden seine Augen weich. Nicht vor Mitleid, sondern vor Verständnis. Er nickte und reichte mir die Packung Zigaretten über den Tresen, damit ich sie nahm.
»Meine Frau in Indien gestorben. Eine Woche, bevor wir nach Amerika gehen. Sie nehmen Zigaretten, bezahlen nächste Mal.«
Ich stand kurz da und starrte ihn an. Dann schnappte ich die Zigaretten, drehte mich um und rannte nach draußen, so schnell ich konnte, bevor die Tränen über meine Wangen liefen. Ich umklammerte die Packung Zigaretten und rannte weinend nach Hause.
Der Laden liegt ein wenig abseits für mich, aber ich gehe nie mehr irgendwo anders hin, wenn ich Zigaretten haben will.
Ich setze mich auf und lächle schwach, als ich die Schachtel Zigaretten auf dem Nachttisch sehe. Ich muss an den Typ im Laden denken, während ich mir eine anstecke. Ich schätze, ein Teil von mir liebt diesen kleinen Mann – auf die Weise, wie man nur einen Fremden lieben kann, der einem eine wunderbare Freundlichkeit erweist in genau dem Augenblick, in dem man sie am dringendsten braucht. Es ist eine tiefe Zuneigung, ein Stich im Herzen, und ich weiß, dass ich mich bis zu meinem Tod an ihn erinnern werde, auch wenn ich seinen Namen niemals erfahre.
Ich inhaliere einen hübschen tiefen Zug und betrachte die Zigarette, die perfekte kirschrote Spitze, die im Dunkel meines Schlafzimmers leuchtet. Das, denke ich, ist das Heimtückische an all den verbotenen Dingen. Nicht die Nikotinsucht, obwohl sie schon schlimm genug ist. Eher die Art und Weise, wie eine Zigarette in bestimmten Momenten einfach passt. Morgendämmerung mit einer dampfenden Tasse Kaffee. Oder einsame Nächte in einem Haus voller Geister. Ich weiß, dass ich wieder aufhören sollte damit, bevor sie ihre Klauen ein weiteres Mal tief in mich versenken. Doch ich weiß auch, dass ich das nicht tun werde. Sie sind alles, was ich im Moment noch habe. Eine Erinnerung an Freundlichkeit und Trost und ein Quell der Kraft, alles in einem kleinen weißen Stängel zusammengerollt.
Ich atme den Rauch aus und beobachte, wie er nach oben steigt, hier und da von winzigen Luftströmungen erfasst, bevor er immer dünner wird und schließlich verschwindet. Wie das Leben, denke ich. Leben ist wie Rauch. Wir machen uns nur etwas vor, wenn wir glauben, dass es anders ist. Es genügt eine kräftige Böe, und wir schweben davon und lösen uns auf, und zurück bleibt nichts außer einem Hauch unserer Existenz in Form von Erinnerungen.
Ich huste unvermittelt und lache angesichts all der Assoziationen. Ich rauche. Das Leben ist Rauch, und mein Name ist Smoky. Smoky Barrett. Das ist tatsächlich mein Name. Meine Mutter hat ihn mir gegeben, weil sie fand, er klinge »cool«. Ich muss kichern in der Dunkelheit, in meinem leeren Haus. Und während ich lache, denke ich (wie schon früher), wie verrückt Lachen klingt, wenn man ganz allein lacht.
Das gibt mir für die nächsten drei oder vier Stunden etwas zum Nachdenken. Die Frage, ob
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