Die Insel der roten Erde Roman
1
»Lucy! Bring mir meinen Sonnenschirm, und beeil dich gefälligst!«, rief die schöne, dunkelhaarige junge Frau ungeduldig. Anscheinend sorgte sie sich um ihre Pfirsichhaut.
»Wäre es nicht besser, die Sonne zu meiden und den Schatten aufzusuchen, Miss Divine?«, erwiderte Lucy freundlich. Die Kraft der vom Wasser reflektierten Sonnenstrahlen durfte man nicht unterschätzen. Niemand wusste das besser als Lucy: Da sie einen hellen Teint und blonde Haare hatte, bekam sie binnen weniger Minuten einen Sonnenbrand. Doch auf dem Achterdeck war sie vor der Sonne und dem aufkommenden Wind geschützt, während die S. S. Gazelle über die Wellenberge stampfte. Die Fahrt ging die australische Südküste entlang in Richtung Backstairs Passage, jener berüchtigten Seestraße, die Kangaroo Island – das Ziel der Reise – vom Festland trennte. Aber nach Einschätzung der Matrosen würde die Gazelle es wegen des starken Gegenwinds nicht vor Einbruch der Dunkelheit bis dorthin schaffen. Dabei war Ende September; eigentlich hätte es mild und heiter sein müssen. Stattdessen wehte ein eisiger Wind.
Amelia Divine, die an der Reling stand, funkelte ihre Bedienstete zornig an. »Mir wird schlecht von diesem schrecklichen Geschaukel, Lucy. Wenn ich mir nicht den Wind um die Nase wehen lassen kann, werde ich bald die Fische mit den widerlichen Hammelkoteletts füttern, die es zum Mittagessen gab.«
Lucy unterdrückte einen gereizten Seufzer. Seit sie vor fünf Tagen mit dem Dampfer Lady Rosalind von Van-Diemens-Land* aus in See gestochen waren, beklagte Amelia sich in einem fort, und allmählich ging Lucy diese Nörgelei auf die Nerven. Es ist zu warm. Es ist zu kalt. Das Essen schmeckt grauenhaft. Die Seeleute sind unhöflich. Ich muss mich mit dem Pöbel vom Zwischendeck abgeben … und so weiter, und so fort. Der kurze Zwischenaufenthalt in Melbourne, wo sie an Bord der Gazelle gegangen waren, hatte Amelias Laune auch nicht bessern können.
Lucy war überzeugt, dass es viel zu windig war, um einen Sonnenschirm halten zu können. Dennoch holte sie ihn, damit ihre Ladyschaft zufrieden war. Kaum hatte sie Amelia den Schirm in die Hand gedrückt, riss eine Windbö ihn auch schon fort und wehte ihn aufs Meer hinaus. Amelia schrie verärgert auf, als der Schirm von den Wellen davongetragen wurde.
»Möchten Sie nicht lieber aus dem Wind kommen, Miss Divine?« Lucy fürchtete, eine starke Bö könnte die zarte Amelia packen und über Bord reißen.
»Ich sagte dir doch, dass mir dann schlecht wird! Sei gefälligst still, wenn du keine vernünftigen Vorschläge hast!«, fuhr Amelia sie an, offensichtlich entschlossen, ihre schlechte Laune weiterhin an ihrer Dienerin auszulassen, wie so oft in den vergangenen Wochen.
Lucy wandte sich ab und ging auf das geschützte Achterdeck zurück, wo eine Mitreisende, die sich ihr als Sarah Jones vorgestellt hatte, die Szene verfolgte.
»Ich verstehe nicht, wie du das Geschimpfe dieser Frau aushältst«, sagte Sarah und warf Amelia, die sich mit hochnäsiger Miene an die Reling klammerte, einen finsteren Blick zu. Sarah hatte im Lauf der Jahre mehrere Frauen wie Amelia Divine kennen gelernt und war oft mit der gleichen Schroffheit abgefertigt worden.
Doch Sarah hatte sich aufgrund ihrer Lebensumstände mit dieser Behandlung abfinden müssen. Weshalb Lucy solche Grobheiten hinnahm, war Sarah ein Rätsel. Das Mädchen mochte zwar eine Bedienstete sein, aber sie war ein freier Mensch – anders als Sarah, die einen Blick dafür hatte, wer zu ihren Leidensgenossinnen gehörte und wer nicht, und Lucy zählte eindeutig nicht dazu. An Lucys Stelle hätte sie dieser Miss Divine ins Gesicht gesagt, was sie von ihr hielt. Das hätte sie vermutlich die Anstellung gekostet, aber es wäre ihr die Sache wert gewesen.
»Ich brauche die Stelle bei Miss Divine«, erklärte Lucy. »Vor anderthalb Jahren bin ich zusammen mit hundertsechsundfünfzig anderen Kindern aus einem Londoner Waisenhaus nach Australien gekommen. Vom sechzehnten Lebensjahr an müssen wir für uns selbst sorgen. Ich bin erst letzten Monat sechzehn geworden und kann von Glück sagen, dass ich gleich die Anstellung bei Miss Divine gefunden habe.«
»Sie kann doch nicht viel älter sein als du«, bemerkte Sarah, den Blick noch immer auf Lucys Brotherrin gerichtet. Deren Eltern waren allem Anschein nach sehr wohlhabend und hatten ihre Tochter zur Hochnäsigkeit erzogen, was Sarahs Abneigung noch
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