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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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aus der Markthalle. Das Taufkleid aus dem silbern durchwirkten Stoff. Was für ein prächtiger Junge! Tannhäuser legte seine Arme unter Grégoires Körper. Der Körper war schlaff, aber nicht kalt. Er hob ihn sich an die Brust.
    Erst als er ans Ufer trat, bemerkte er, dass der Junge tot war.
    Er atmete nicht. Seine Lippen und der freigelegte Gaumen waren blau.
    Mehr noch, er konnte spüren, dass die Seele des Jungen fortgeflogen war.
    Ein Stück von Tannhäuser flog ihr nach.
    Er wusste, dass weder die Seele des Jungen noch dieses Stück von ihm je wiederkehren würden.
    Warum war er gestorben? Es war kein Blut im Boot zu sehen. War sein Blut durch die Wunde vergiftet worden? Das Opium hätte ihn viel früher umgebracht, wenn das der Fall gewesen wäre, oder? Dann wäre er niemals aufgewacht. Und doch hatte er noch das Taufkleid aus der Satteltasche genommen. Wie hatte ihn eine so kleine Anstrengung umbringen können?
    Es ergab keinen Sinn, dass er jetzt sterben sollte, jetzt, da alles vorüber war.
    Tannhäuser hätte ihn am liebsten geschüttelt.
    Er erinnerte sich an den Jungen mit dem erdbeerfarbenen Geburtsmal.
    Er erinnerte sich an Juste.
    Grégoires letzte Tat war die eines getreuen Freundes gewesen.
    Eine Tat der Liebe.
    Tannhäuser trug Grégoire in den Wald.
    Er ging im großen Bogen um das Lager und die Feiernden herum. Keiner von ihnen hatte Grégoire eigentlich gekannt. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sie alle durch die blutigen Straßen dieser Stadt zu lotsen. Sie mussten nicht noch ein totes Kind zu Gesicht bekommen. Er würde Estelle erzählen, er hätte gesehen, wie der Drache ihn davontrug. Die Mäuse würden das auch glauben. Die anderen würden es verstehen. Er hielt am Waldrand inne und hörte auf ihren fröhlichen Lärm. Er war auf einer kleinen Lichtung, und das Morgenlicht war sanft und grün. Er legte Grégoire auf das Gras. Er kniete sich auf einem Knie neben ihn.
    »Du warst der Einzige, der nicht sterben musste. Der Einzige, der keinen guten Grund hatte, mit mir zu kommen. Der Einzige, den ich ausgewählt habe, als ich nicht zu wählen hatte.«
    Tannhäuser hielt inne. Seine Stimme brach.
    »Du hast Pferde geliebt. Und ich würde sagen, sie haben dich geliebt, und ich kann es ihnen nicht verdenken. Du hast meine Tochter in der finstersten Nacht gefunden. Du hast mir Carla in dieArme gelegt. Du warst bei mir, du bist bei mir geblieben, du hast mich geführt, durch Blut, Tod und Donner, und du hast nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn wir beide uns nie begegnet wären, dann würdest du jetzt noch die Pferde lieben. Aber obwohl mir das Herz bricht, will ich nicht lügen. Ich hätte es nicht anders haben wollen. Ich habe nichts, mit dem ich graben könnte, also werde ich dich hier in der Wildnis lassen, wo dich die wilden Tiere und Vögel fressen werden. Ich würde für mich nichts anderes erwarten. Das Grab eines Kriegers, so nennen wir das. Und keiner hat es je mit mehr Tapferkeit verdient.«
    Tannhäuser schaute Grégoires Gesicht an, denn diese Möglichkeit würde er nie wieder bekommen.
    Der Junge war im Tod so hässlich wie im Leben.
    »Nenn ihn den Allerschönsten.«
    Tannhäuser senkte den Kopf und ließ den Schmerz über sich hereinfluten.
    Er wusste nicht, wie lange er so da gekniet hatte.
    Er hörte das Lachen der Mädchen und hob den Kopf.
    Er stellte fest, dass Carla neben ihm kniete. Sie nahm seine Hand.
    Amparo schlief in ihre Armbeuge geschmiegt und atmete ruhig.
    »Carla, du hast nie schöner ausgesehen.«
    »Ich hoffe, das ist eine weitere liebevolle Lüge.«
    »Das ist es nicht.«
    »Du fehlst uns. Du fehlst den Kindern.«
    »Es klingt aber gar nicht so.«
    »Ich glaube, sie lachen über dich.«
    Tannhäuser grinste.
    »Lass mich meine Tochter Amparo halten.«
    Tannhäuser nahm das Kind. Sie lag bequem in seinem Arm. Er hatte das Gefühl, als gehörte sie da hin. Und Amparo hatte das gleiche Gefühl. Sie war so klein. So gegenwärtig.
    Amparo lebte.
    »Was hält Grégoire fest?«, fragte Carla.
    Tannhäuser hatte das Päckchen vergessen.
    Er nahm es Grégoire aus der Hand.
    »Wir haben es für dich und die Nachtigall gekauft, er und ich. Grégoire hat es nie losgelassen.«
    Er gab Carla das Päckchen.
    Sie löste das Band und machte es auf und hielt das Taufkleid hoch.
    Es war mit dunklen Streifen verschmutzt.
    »Es ist ein bisschen groß«, sagte Tannhäuser, »aber sie wird hineinwachsen.«
    »Es ist zauberhaft. Ich finde es wunderbar.«
    Sie küsste ihn. Er

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