Die Blutnacht: Roman (German Edition)
weiter auseinanderdrifteten, hatte sich der Feuerkahn aus der Barrikade befreit und drehte sich langsam in der Strömung, die ihn mit sich forttrug. Er schien auf einem Teppich aus Leichen zu schwimmen. Eine Dampffontäne schoss hinter dem Bug in den Himmel. Das Geräusch war das von Tausenden von glühenden Kohlen, deren Feuer vom Fluss gelöscht wurde.
»Mein Infant, wir sind alle an Bord, und wir haben unser Fährgeld bezahlt.«
»Dann fort mit euch. Und wartet auf den Schall meines Gelächters.«
Mattias ließ los, und das Fischerboot trieb zur äußersten Grenze von Grymondes Reichweite. Estelle schrie auf, packte Amparo und schmiegte sich noch enger an Carlas Brust.
Grymonde hielt mit gefletschten Zähnen weiter fest, und seine Augenhöhlen starrten in den Nachthimmel.
Mattias ging zur vorderen Ruderbank und lud seine Ausrüstung ab. Er winkte Pascale und Orlandu zu, sie sollten ihm die Ruder reichen, und er setzte sich zurück und legte die Ausleger in die Dollen ein. Er lehnte sich vor, legte die Ruderblätter flach aufs Wasser und hielt inne. Er lächelte Carla zu, die hinter den traurigen, jungen Gesichtern hervorschaute. Er wartete auf ihren Befehl.
Carla nahm das Steuer in die Hand und nickte.
Mattias tauchte die Ruder ein.
Als Grymonde den Ruderschlag spürte, ließ er los und drehte seine Hand, und seine Finger streichelten über Carlas Hand. Das Fischerboot entfernt sich, und seine Hand fiel ins Wasser. Carla schaute zu Amparo herunter. Das Kind war immer noch wach, immer noch von der Welt verzaubert.
Carla wandte sich um, als Grymonde das Kinn auf die Brust sank.
Sein großer, verwüsteter Kopf sank unter die Wasseroberfläche.
Nur sein Arm blieb über dem Wasser, die riesige Pranke weit gespreizt und blau, das Handgelenk noch mit der Kette an die zerbrochene Sperre gefesselt.
Mattias ruderte, und das Fischerboot bewegte sich fort. Sie kamen an dem verlöschenden Kohlenkahn vorüber, der auf das Uferzutrieb und Rauchschwaden über die im Wasser schwimmenden Toten warf. Die Türme des Louvre standen schwarz vor dem mitternächtlichen Himmel und wurden immer kleiner. Sie sah die Fackeln auf den Stadtmauern. Sie hatten Paris verlassen.
Carla wandte sich ab.
Estelle nicht. Sie starrte über das Wasser auf die treibenden Reste der Sperre zurück.
»Er hat sich bewegt! Sieh nur, Carla, der Drache ist nicht tot!«
Carla schaute zu dem angeketteten Arm. Vielleicht täuschten sie das Mondlicht, der Rauch und das Wasser, aber sie glaubte, dass Grymondes Hand sich zur Faust geballt hatte.
»Estelle?«, sagte Mattias.
Estelle wischte sich über das Gesicht und schaute dann zu ihm hin.
»Es würde nicht zum Infanten passen, wenn er ein Engel würde.«
»Warum nicht?«
»Die Flügel eines Engels sind nicht stark genug, um jemanden wie ihn zu tragen.«
Estelles Gesicht hellte sich auf. »Aber ein Drache hat Flügel.«
»Ja. Und ein Drache hat auch noch etwas anderes mit Engeln gemeinsam.«
»Was ist das?«
»Ein Drache stirbt niemals.«
KAPITEL 44
N AMENLOSE P FADE
Hugon wartete in der Gasse beim Stall, bis er die Schreie nur noch aus der Ferne hörte. Sie waren seit fünf Minuten nicht näher gekommen, und sie wurden schwächer. Also hatte er sich durch die schwärzesten Schatten zum Pont Notre-Dame bewegt.
Er schaute hinunter, als der kahle Hund neben ihn getrottet kam.
»Ich hab dir doch gesagt, dass du letzte Nacht nicht mit denen mitgehen solltest. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören! Musstest unbedingt mit der Meute rennen. Jetzt siehst du, was du davon hast.«
Der Hund schien mit seinen Abenteuern recht zufrieden zu sein. Hugon auch. Er war gut aus der Sache herausgekommen. Er war ein paar Risiken eingegangen. Die Leichen im Fluss hätten ihn beinahe mit sich heruntergezogen. Aber man musste ja Risiken eingehen, wenn man bekommen wollte, was man wollte, besonders wenn alle anderen wollten, was sie wollten, und einem nicht viel mehr Wert zumaßen als einem kahlen Hund.
Keiner von denen wusste wirklich, wer er war. So gefiel es Hugon. Die Leute immer im Unklaren lassen. Nicht einmal Alice kannte ihn, obwohl er das geglaubt hatte. Er war traurig, dass Alice fort war, aber sie hatte ohnehin nicht mehr lange zu leben gehabt; das hatte er auch schon eine ganze Weile gewusst. Grymonde genauso. Tannser hatte ihn überrascht – er hatte keine Witze gemacht, als er vom Lohn für die nächsten vierzig Jahre sprach. Was sollte das denn? Aber da konnte man mal sehen, wie dumm es
Weitere Kostenlose Bücher