Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
es kaum wagte, seinen eigenen Gedanken zu trauen.
    Vor Castets, kaum einen Tagesritt von La Penautier entfernt, trafen sie auf eine Bande von Deserteuren, die auf müheloses Plündern aus waren. Tannhäuser tötete sie, und seine Melancholie verschwand, und er verdrängte die Wahrheit darüber, was er nun tun sollte, wieder. Darum wollte er sich später und anderswo kümmern, in einer Welt, die wahrscheinlich nie die seine sein würde.
    In dieser Welt wollte er einfach nur aufhören, seine Meinung zu sagen.In der Nacht ihrer Flucht aus Paris ruderte Tannhäuser das Fischerboot bis zur Morgendämmerung. Orlandu und Pascale wechselten sich am Steuer ab. Carla schlief völlig erschöpft auf den Planken, Amparo an ihre Brust geschmiegt. Estelle, Grégoire und die Mäuse scharten sich um sie, und sie hielten einander warm.
    Tannhäuser sah die Sonne aufgehen. Er erblickte keine anderen Boote auf dem Fluss, und die Ufer zu beiden Seiten waren unbewohnt. Bäume. Vogelgesang. Wiesenblumen. Schräges Licht. Eine beinahe gespenstische Stille, die so süß war, dass man hätte meinen können, sie wären durch einen Zaubervorhang in ein Märchenreich gefahren. Er schaute auf die Kinder, die barfuß in ihren blutigen Lumpen schliefen.
    Nun da sie der Hölle entkommen waren, deren Flammen sein Schicksal mit dem ihren verschmolzen hatten, sahen ihre Gesichter unschuldig und sorglos aus. Er hatte das Gefühl, sie zum allerersten Mal zu sehen. Sie waren so klein, so jung und so verletzlich, und als er sie im Schlaf beobachtete, füllte sich sein Herz beinahe bis zum Bersten mit dem schmerzlichen Anblick ihrer unerklärlichen Schönheit.
    Er war am Ende seiner Kräfte. Er gab Orlandu ein Handzeichen, und sie fuhren ans Ufer. Er machte das Boot fest, keiner der Schläfer wachte auf. Er ließ sie in Ruhe. Er lud seine Satteltaschen und die Säcke ab. Orlandu und er sammelten wortlos Holz und bauten ein Lagerfeuer. Sie hatten schon an vielen Feuern zusammengesessen. Dieses war ein ganz besonderes, und er hatte ein gutes Gefühl dabei. Sie lächelten. Tannhäuser kramte in den Säcken und breitete das Essen aus. Es war mehr als genug für ein anständiges Frühstück.
    Es sah sehr einladend aus.
    Er schaute zu Orlandu, der nickte.
    Er weckte Carla und half ihr an Land. Er küsste sie und erntete ein bleiches Lächeln. Er führte sie zu dem Lager, und ihr Gesichtsausdruck ließ all seine Müdigkeit verschwinden. Carla setzte sich im Schneidersitz hin und stillte Amparo, die begierig trank und insgesamt vor Lebendigkeit sprudelte. Immer noch hatte niemand ein einziges Wort gesprochen, denn es schien, als gingen sie alle durch einen Traum, dessen Zauber keiner brechen wollte.
    Er wurde schon bald genug gestört, genau wie die Stille, obwohl dies den Morgen nicht weniger schön machte. Estelle hatte nämlich noch niemals einen Wald gesehen und auch kein Lagerfeuer unter einem Baum oder ein Stück Gras, auf dem man Käse und Brot und Wurst ausgebreitet hatte. Die Mäuse kannten dergleichen auch nicht. Genauso wenig Pascale. Sie stürzten sich auf das Essen, wie es nur Kinder können, wie hungrige Löwen. Sie plapperten, und die Mäuse lachten. Pascale bedachte Orlandu mit frechen Bemerkungen und war entzückt, als er ihr mit gleicher Münze zurückzahlte.
    Es war ein denkwürdiger Anblick. Und doch fehlte der Wahrhaftigste unter ihnen, wenn es denn einen gab. Ohne ihn hätte es dieses Fest nicht gegeben. Ohne ihn würde es kein richtiges Fest geben.
    »Lasst für Grégoire etwas übrig, selbst wenn ihr mir nichts übrig lasst.«
    Sie verspotteten ihn alle, versprachen aber, für ihren Mitreisenden eine volle Portion übrigzulassen.
    Tannhäuser kehrte zum Boot zurück.
    Er war nicht besorgt, als er merkte, dass der Junge sich nicht bewegt hatte. Das Opium gab ihm das Recht, tiefer und fester zu schlafen als alle anderen. Tannhäuser fragte sich, ob er ihn nicht in Ruhe lassen sollte, solange der Schlaf andauerte. Er hatte schon die Qualen von Menschen gesehen, die ein Bein verloren hatten. Die Schmerzen wurden erst eine lange Zeit schlimmer, ehe sie nachließen. Andererseits würde das Frühstücksfest der Seele des Jungen guttun, und er brauchte das genauso sehr wie das Essen.
    Grégoire aß gern.
    Tannhäuser kletterte in das Fischerboot und sah, dass Grégoire etwas mit der Hand umklammerte, irgendeinen verknüllten Lappen. Tannhäuser beugte sich hinunter und erkannte das einstmals weiße Band in den Fingern des Jungen. Es war das Paket

Weitere Kostenlose Bücher