0726 - Krematorium der Angst
Der Mann hieß Vincent Craig, er hatte mich zu einem bestimmten Treffpunkt bestellt. Nicht in einen Pub oder ein Restaurant, sondern in den Hyde Park, und das mitten im November.
Es war eine andere Welt geworden. Melancholie, der Geruch von Rauch, Laub und Feuchtigkeit.
Irgendwo hinter den großen Hecken hatten Männer ein kleines Feuer angezündet, in dem sie das Laub verbrannten.
Ich hockte auf einer Bank, hatte die Hände in den Taschen der dicken Jacke und schaute den Blättern zu, die sich aus dem Astwerk lösten und zu Boden fielen.
Sie schwangen dabei, als würden sie von Wellen getragen, sie taumelten, sie waren bunt, alle Farben vereinigten sich auf dieser kleinen Fläche.
Auch eine schöne Zeit, man mußte sie nur zu nehmen wissen. Zudem hatte ich das Glück, daß es nicht regnete. Der Himmel war beinahe klar. Wolken sah ich keine, nur weit in der Ferne lag ein grauer Streifen, als wäre die Dämmerung dabei, sich in den Tag zu schieben.
Das hatte noch einige Stunden Zeit.
Das Gras sah nicht mehr so aus wie im Sommer. Kein sattes Grün, es wirkte auch nicht verbrannt, es hatte eine bräunliche Farbe angenommen, durch die hin und wieder ein grüner Flaum schimmerte. Für mich sah der Rasen aus wie ein abgetretener Teppich, der auf den Winter und dann auf bessere Zeiten wartete.
Auch jetzt hielten sich in dem großen Park Spaziergänger auf. Zumeist ältere Leute, die auch am Vormittag Zeit hatten. Der große Betrieb aber war vorbei. Im Herbst und im Winter glich der Park einem schlafenden Tier, das sich über Monate hinweg zur Ruhe gelegt hatte und sich dabei um nichts kümmern wollte.
Vincent Craig war tot.
Ich hatte seine Leiche selbst gesehen. Er war ein Kollege gewesen, ich hatte an seiner Beerdigung teilgenommen. Es war eigentlich unmöglich, daß er mich treffen konnte.
Aber was war in meinem Job schon unmöglich? Ich verzog die Lippen, als ich daran dachte. Eigentlich hatte ich schon alles erlebt, mich konnte so leicht nichts erschüttern, doch die Stimme meines Kollegen Craig war mir durch und durch gegangen. Sie hatte so echt geklungen. Zudem hatte ich das Gespräch aufgezeichnet. Der Stimmenvergleich und die Stimmenanalyse hatten eine hundertprozentige Übereinstimmung ergeben.
War er tot? War er nicht tot? Wollte er als Untoter zurückkehren? Kaum, denn dann hätte er nicht reden können und sich nicht so offen gezeigt. Dieser Fall bildete bereits jetzt für mich ein großes Rätsel. Ich war gespannt darauf, wie es weitergehen würde.
Noch war von ihm nichts zu sehen. Ich zog die linke Hand halb aus der Tasche und schielte auf die Uhr.
Drei Minuten hatte ich noch bis zur vereinbarten Zeit. Von der rechten Seite her näherte sich eine Gruppe Kleinkinder, behütet von zwei Kindergärtnerinnen. Die Gruppe unternahm einen Herbstausflug, und die Kleinen hatten einen wahnsinnigen Spaß, wenn sie durch das Laub stapften und es dabei in die Höhe schleudern konnten. Ich mußte lächeln, als ich die Szene sah, und ich war froh darüber, daß es auch noch so etwas gab.
Eigentlich war das das normale Leben und nicht das, das ich kannte und führte.
Ich mußte mich zusammenreißen, weil mir ebenfalls schon trübe Gedanken kamen. Es lag wohl am Wetter und an der herbstlichen Stimmung.
Ich veränderte meine Sitzhaltung und legte den rechten Arm auf die Lehne der Bank. Schwarze Vögel segelten durch die Luft. Sie nutzten die Winde für ihren eleganten Flug aus, und es machte mir einfach Freude, ihnen zuzuschauen.
Würde der ›Tote‹ pünktlich sein?
Ich dachte darüber nach, spürte ein Frösteln, und meine Stimmung kippte.
Ich konnte den Grund nicht nennen, auf einmal hatte ich den Eindruck, unter Dampf zu stehen. Okay, bei diesem Wetter litten zahlreiche Menschen, weil aus Südwesten eine warme Strömung London erreicht hatte und das Thermometer in den zweistelligen Bereich katapultierte. Daran konnte es nicht liegen, zudem war es kein körperliches Unwohlsein, das mich überfallen hatte. Bei mir war es einfach die innere Uhr, die nicht mehr richtig lief.
Etwas hatte mich gewarnt…
Natürlich trug ich mein Kreuz, das bei meinem letzten Fall, der Vampirjagd in Sachsen, fast verlorengegangen wäre. Doch der Talisman hatte sich nicht erwärmt.
Es war einfach meine innere Uhr gewesen, die auf Alarm geschaltet hatte.
Ich schaute nach links.
In diese Richtung waren die Kinder verschwunden. Ich hörte noch ihre Stimmen, sah sie selbst nicht, da der Weg in eine Kurve lief und sie rasch
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