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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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war, zu glauben,dass man in einen Menschen hineinsehen konnte, ohne abzuwarten, was er tat. Allerdings würde er sich diesen Mann nur ungern zum Feind machen.
    Und was Carla betraf, über die würde er sein ganzes restliches Leben lang nachgrübeln. Hielte er nicht ihre Gambe in der Hand, so hätte er sicher gedacht, er hätte sie geträumt. Es tat ihm leid, dass sie mit den anderen fortgegangen war. Sie hatte Geheimnisse, die er gerne ergründet hätte. Aber er hatte die Gambe. Er wusste, dass das nicht besonders sinnvoll war, aber für ihn war die Gambe kostbarer als die vierzig Jahre Lohn, die er um den Hals hängen hatte.
    Er würde sich für den kahlen Hund einen neuen Namen ausdenken müssen, wenn er Zeit dazu hatte und der Hund bei ihm blieb. Er war ein zähes kleines Ding, und er hatte teuflisch viel Glück gehabt. Das erhoffte Hugon auch für sich. Tannsers Jungen hatten den Hund Luzifer genannt, aber was für ein Name war das denn für einen kahlen Hund?
    Als er zu der Brücke kam, war sie menschenleer. Da war nur das kleine Mädchen.
    Das Mädchen interessierte ihn nicht sonderlich. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Doch sie wirkte verloren, nicht, weil sie nicht wusste, wo sie war, sondern weil sie allein war.
    Es war nicht gut, zu viel zu empfinden. Das hatte er immer schon gewusst, und heute hatte es sich wieder bewahrheitet. Und morgen würde es wieder so sein. Und doch war es seltsam. Carla würde es nie erfahren, und sie hielt ihn bestimmt für einen Mistkerl, weil er ihre Gambe gestohlen hatte, aber er hatte das Gefühl, es ihr zu schulden.
    Er ging zu dem Mädchen hinüber, und das Mädchen drehte sich zu ihm um, und er sah, dass sie ihn erkannte.
    »Wie heißt du? Ich bin Hugon.«
    »Ich bin Antoinette. Wo ist Carla?«
    »Sie ist fort, über den Fluss, wohin sie auch immer fahren. Aber ich würde nicht viel Geld darauf wetten, dass sie wirklich dort ankommt.«
    »Warum hat mich Carla in der Kathedrale zurückgelassen?«
    Beinahe hätte er geantwortet: Vielleicht weil sie dich nicht haben wollte . Denn das schien ihm der wahrscheinlichste Grund.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie es einfach vergessen.«
    »Du hast mich in der Kathedrale gesehen.«
    »Ja, aber das war doch nicht meine Sache, oder?«
    Sie musste einsehen, dass das wirklich stimmte. Aber sie war immer noch verwundert. Vielleicht war sie sogar ein wenig verletzt. Er zuckte die Achseln und spürte das Gewicht seiner Kette.
    »Tannser hat gesagt, die Kathedrale wäre der sicherste Ort in der Stadt. Dass du da drinnen besser aufgehoben wärst als draußen, und wenn du gesehen hättest, wie die aussahen, als sie fortgefahren sind, dann wärst du der gleichen Meinung. Du hättest leicht ein Bein verlieren können.«
    Diese Erklärung schien sie ein wenig zu trösten.
    »Wer ist Tannser?«, fragte sie.
    Hugon wusste nicht, wo er beginnen sollte. Er fand, dass man Tannser wahrscheinlich an einen Mistkarren ketten und ihm eine Schaufel geben sollte, denn wahnsinnig genug war er, aber das sagte er nicht.
    »Einfach ein Mann.«
    »Bringst du mich nach Hause?«
    »Ich weiß nicht, wo du wohnst.«
    »Gehst du nicht in die Höfe zurück?«
    »Wohin sonst? Zumindest erst einmal. Ich habe bekommen, was ich wollte. Und mehr.«
    »Nimm mich mit nach Hause in die Höfe – das habe ich gemeint. Kann ich mit dir kommen?«
    »Ja, schon. Aber ich passe nicht auf dich auf.«
    Er wusste nicht, ob sie das wollte oder nicht.
    Sie nahm ihn bei der Hand, und er ließ es dabei.
    Er machte sich auf den Weg über die Brücke, im Schatten, wo er sich sicher fühlte.
    Antoinette schaute auf den Gambenkasten.
    »Hat Carla dir den gegeben?«
    »Sie sagte, ich sollte Gambe spielen lernen. Ich gehe die Saiten beherzt an, hat sie gemeint.«
    »Carla hat uns immer gesagt, wir sollten Musik beherzt angehen. Aber auf der Blockflöte ist das nicht so einfach.«
    »Was meinst du damit?«, fragte Hugon.
    »In die Flöte blasen, das fühlt sich nicht beherzt an.«
    »Nein, ich meine, wann hat sie euch das gesagt?«
    »Wenn wir musiziert haben.«
    »Was? Du und Carla, ihr habt musiziert?«
    »Ja, jeden Tag. Mit Lucien, Charité und Martin. Und mit Mama.«
    Hugon schaute das Mädchen an.
    »Du willst mir sagen, du kannst Musik machen?«
    »Ich kann Noten lesen.«
    »Wie kann ich dir das glauben? Du bist doch noch ein Kind.«
    »Mama hat es mir beigebracht. Es ist leichter als Bücher lesen.«
    Hugon schnaufte. »Ich habe noch nie gesehen, dass jemand tanzt oder weint,

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