Die Borgia: Geschichte einer unheimlichen Familie (German Edition)
Bei großzügiger Einstufung ließen sie sich dem Landadel zurechnen. Ihr Aufstieg zu einer der mächtigsten und am meisten gefürchteten Familien Europas aber war an die Karriere eines einzigen Mannes geknüpft. Der am letzten Tag des Jahres 1378 als Spross eines verarmten Seitenzweigs geborene Alonso de Borja machte sich als Jurist in Kirchen- und Staatsdiensten einen Namen und erhielt 1411 das familienübliche Kanonikat von Lérida. Dass es damit nicht wie bisher sein Bewenden hatte, hing mit außergewöhnlichen Zeitumständen zusammen, die Alonso besondere Bewährungschancen boten.
1378 war ein Unheilsjahr für die Kirche gewesen. Kurz nacheinander waren zwei Päpste gewählt worden, Urban VI. mit den Stimmen der italienischen Kardinäle, sein Rivale Clemens VII. mit Unterstützung der französischen Kirchenfürsten. So gab es jetzt zwei Päpste und zwei Kurien, die eine in Rom, die andere in Avignon. Parallel dazu spaltete sich die Christenheit in Obödienzen, das heißt Gefolgschaften, auf. Für die Kleriker hatte dieses Schisma eine peinvolle Rechtsunsicherheit zur Folge: Pfründen wurden jetzt doppelt vergeben, wer den einen Prozess verlor, wandte sich an den konkurrierenden geistlichen Gerichtshof. Für die Gläubigen insgesamt war die Lage nicht weniger beängstigend: Welcher Papst hatte sein Amt von Gott und welcher vom Teufel, wer führte seine Schäfchen in die Hölle, wer ins Paradies – falls dieses in den Zeiten der allgemeinen Verwirrung überhaupt noch offenstand? Die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung der Kirche nahm daher immer mehr zu. Nach mehr als dreißigjähriger Spaltung schien es 1409 endlich soweit zu sein: Ein Reformkonzil wählte in Pisa einen Papst, der dem Schisma ein Ende bereiten sollte. Doch die beiden anderen Päpste dachten nicht an Abdankung; so hatte die Christenheit jetzt gleich drei Prätendenten, die allesamt die Nachfolge Petri beanspruchten, die es doch nur ungeteilt geben konnte.
In dieser verfahrenen Situation hatten erfahrene Rechtsspezialisten wie Alonso de Borja optimale Profilierungschancen. So stieg der Mann aus Játiva im Gefolge «seines» Papstes Benedikt XIII. zu immer höheren Positionen auf – um kurz danach während des Konzils von Konstanz (1414–1418) einen regelrechten Karriereeinbruch zu erleben. Sein Protektor wurde von dieser Kirchenversammlung, die jetzt die Oberhoheit über die Kirche und das Papsttum innehatte, kurzerhand abgesetzt. Zu dem in Konstanz neu gewählten Papst Martin V. aus der römischen Adelsfamilie Colonna hatte de Borja keinerlei Beziehungen; seine so verheißungsvoll begonnene Laufbahn schien jäh beendet. Dass sie weiter nach oben führte, hatte mit kluger Planung und historischen Zufällen gleichermaßen zu tun. Alonso wechselte nämlich in die Dienste König Alfonsos V. (1396–1458) von Aragón über. Dieser junge Monarch war mit seinem ausgedehnten Herrschaftsgebiet in Nordspanien und dessen Vorposten Sardinien und Korsika ein europäischer Machtfaktor ersten Ranges, doch mit dieser herausgehobenen Stellung keineswegs saturiert. Bei seinen ehrgeizigen Unternehmungen stand ihm Alonso de Borja als kluger und verlässlicher Ratgeber zur Seite. Als Lohn für diese treuen Dienste erhielt er 1429 das reiche Bistum Valencia und besiegelte damit eine weitere Etappe des Familienaufstiegs. Die de Borja waren von der Peripherie ins Zentrum gelangt, und selbst diese Position musste noch nicht das Ende bedeuten. Die enge Anlehnung an den umtriebigen König trug jedoch nicht nur Früchte, sondern hatte auch ihren Preis. Für die Verleihung der ertragreichen Diözese verlangte Alfonso Gegenleistungen, nicht zuletzt finanzieller Art. In Valencia residierte der neue Bischof jedoch nicht. Er war bei Hofe als Ratgeber unabkömmlich.
Auch bei Papst Martin V., der 1420 nach Rom zurückgekehrt war und den weitgehend zerfallenen Kirchenstaat zu konsolidieren begann, erwarb sich de Borja Verdienste. So war er wesentlich daran beteiligt, den letzten spanischen Gegenpapst zur Aufgabe zu bewegen.
Dass Alonso seine Tage nicht als Bischof von Valencia beschloss, sondern noch viel höher emporkam, hatte mit den weiterhin ungestillten Ambitionen seines königlichen Herrn zu tun. Dessen Begierde richtete sich in den 1430er Jahren auf das dreihundert Jahre zuvor von den Normannen gegründete Königreich Neapel, das 1189 an die Staufer und 1266 an die Anjou, eine Seitenlinie des französischen Königshauses, übergegangen war. Nach schweren
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