Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Prolog
Wie andere Bücher begann auch dieses in einem Garten. Vor fast zwanzig Jahren stieß ich auf eine Zeitungsnotiz über einige Studenten des örtlichen College, die hundert verschiedene Tomatenvarietäten angebaut hatten. Es hieß, Besucher, die sich ihre Arbeit ansehen wollten, seien willkommen. Da ich Tomaten mag, beschloss ich, mit meinem achtjährigen Sohn hinzugehen. Als wir das Treibhaus des College betraten, war ich erstaunt – noch nie hatte ich Tomaten in so vielen verschiedenen Größen, Formen und Farben gesehen.
Ein Student bot uns auf einem Kunststofftablett eine Auswahl an. Darunter befand sich ein beängstigend unförmiges Exemplar von der Farbe alter Ziegel mit einer ausgedehnten schwarzgrünen Tonsur um den Stängel. Manchmal träume ich von Sinnesempfindungen, die so intensiv sind, dass ich aufwache. Genauso war diese Tomate: Abrupt weckte sie meine Geschmacksnerven auf. Ihr Name sei, so der Student, «Schwarze von Tula». Es handle sich um eine «alte» Tomate ukrainischen Ursprungs, gezüchtet im 19 . Jahrhundert.
«Ich dachte, Tomaten kommen aus Mexiko», sagte ich überrascht. «Wieso sind sie in der Ukraine gezüchtet worden?»
Der Student reichte mir einen Katalog mit alten Samen für Tomaten, Chili-Pfeffer und Bohnen, gemeine Bohnen, nicht grüne Bohnen. Zu Hause blätterte ich durch die Seiten. Alle drei Pflanzen stammen aus Amerika. Doch immer wieder kamen Unterarten von anderen Kontinenten: Tomaten aus Japan, Paprika aus Italien, Bohnen aus dem Kongo. In dem Wunsch, mehr solche exotischen, schmackhaften Tomatensorten zu haben, bestellte ich mir Samen, ließ sie in einem Kunststoffbehälter keimen und pflanzte die Sämlinge in den Garten – etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte.
Bald nach meinem Besuch im Treibhaus ging ich in die Bücherei. Ich entdeckte, dass meine Frage an den Studenten völlig verfehlt gewesen war. Zunächst einmal liegt der Ursprung der Tomaten vermutlich nicht in Mexiko, sondern in den Anden. In Peru und Ecuador gibt es ein halbes Dutzend wilde Tomatenarten mit Früchten so groß wie Reißzwecken, die bis auf eine Sorte ungenießbar sind. Für Botaniker ist das eigentliche Rätsel weniger die Frage, wie die Tomaten in die Ukraine oder nach Japan gelangten, sondern wie die Vorfahren der heutigen Tomaten von Südamerika nach Mexiko kamen, wo einheimische Pflanzenzüchter die Früchte völlig veränderten: Die Tomaten wurden größer, röter und, vor allem, angenehmer im Geschmack. Warum wurden nutzlose wilde Tomaten Tausende von Kilometern weit transportiert? Warum war die Art nicht in ihrem Heimatgebiet domestiziert worden? Wie war es den Menschen in Mexiko gelungen, die Pflanzen entsprechend ihren Wünschen zu verändern?
Diese Frage berührte ein Thema, für das ich mich schon lange interessierte: die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner. Als Reporter in der Nachrichtenabteilung der Zeitschrift
Science
hatte ich von Zeit zu Zeit Archäologen, Anthropologen und Geografen zu den immer detaillierteren Erkenntnissen über Größe und Entwicklungsstand längst vergangener indigener Gesellschaften befragt. Die staunende Hochachtung der Botaniker für die indianischen Pflanzenzüchter passte in das Bild. Schließlich bekam ich aus diesen Gesprächen so viele Informationen, dass ich ein Buch über den aktuellen Stand der Forschung zur Geschichte des amerikanischen Kontinents vor Kolumbus schrieb. Ein wenig von dieser Geschichte trugen die Tomaten meines Gartens in ihrer DNA .
Sie enthielten auch ein wenig von der Geschichte nach Kolumbus. Ab dem 16 . Jahrhundert verbreiteten die Europäer die Tomaten in alle Welt. Von Afrika bis Asien wurden sie angebaut, nachdem sich die Bauern von ihrer Ungiftigkeit überzeugt hatten. Überall, wo sie hinkam, übte die Pflanze einen bescheidenen, manchmal auch gar nicht so bescheidenen Einfluss aus – Süditalien ohne Tomatensoße ist kaum vorstellbar.
Allerdings wusste ich nicht, dass solche biologischen Transplantate auch jenseits des Tellerrands eine Rolle gespielt haben könnten, bis ich in einem Antiquariat auf ein Taschenbuch von Alfred W. Crosby stieß, einem Geografen und Historiker, der damals an der University of Texas war:
Ecological Imperialism
[
Die Früchte des weißen Mannes
,
Ökologischer Imperialismus 900 – 1900
, Frankfurt am Main 1991 ]. Ich fragte mich, was der Titel zu bedeuten habe, daher nahm ich das Buch heraus. Gleich der erste Satz sprang mir ins Auge: «Europäische Auswanderer
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