Die Botschaft Der Novizin
heute Nacht gelesen. Er sei noch ganz jung!« Die Stimme neben ihr kicherte. »Sie schauen ihn sich gerade an.« Die Novizin neben ihr, Julia Contarini, ein Mädchen aus bestem venezianischem Hause, zupfte sie am Ärmel und zog sie zum Gitter. Doch draußen war nichts mehr zu sehen, die Lichter waren bereits gelöscht. Die Nonne spürte jedoch, dass dort vorn jemand stand und zu ihr hersah. »Francesca, Ihr seid ja ganz nass und schmutzig!«, zischte die Novizin empört. »Ganz schwarz! Seid Ihr durch den Kamin hinausgeritten und zur Vigil zurückgekommen? Oderübers Wasser gelaufen?« Wieder kicherte das Gör über seinen groben Scherz, doch Suor Francesca ließ sich nicht beirren. »Hast du das nächtliche Stillschweigen vergessen?«, tadelte sie das Mädchen, das höchstens vierzehn Jahre zählte. Die Novizin senkte den Kopf. »Mea culpa!« , flüsterte sie und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. Dann verschwand sie.
Suor Francesca wunderte sich über die Anzüglichkeiten der Novizin. Vor vierzig Jahren wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, eine der ehrwürdigen Mütter mit einer Hexe zu vergleichen. Doch diese überraschend blauäugige Contarini-Tochter zeigte vor nichts und niemandem Respekt und begehrte auf diese Weise gegen ihr Schicksal auf, das sie nach San Lorenzo verbannt hatte.
Während sie überlegte, welche Buße sie dem Mädchen auferlegen sollte, machte sie sich auf den Weg zu ihrer Zelle. Bereits nach wenigen Schritten wusste sie um die Strafe: Sie würde dem Mädchen das Tragen ihres Siegelrings verbieten und den goldenen Wappenring mit den drei schwarzen Streifen für eine Woche einziehen.
Dennoch hatte die Novizin recht. Sie musste ihre Kleidung waschen und vor allem eine trockene Kutte überziehen. Ihr nächtlicher Ausflug hatte seine Spuren hinterlassen. Doch dafür würde am Morgen Zeit genug bleiben. Anderes ging ihr im Kopf umher und verließ ihn nicht mehr. Welche der Nonnen konnte hinter ihr herspioniert haben? Oder waren Fremde eingedrungen? Erstaunt hätte es sie nicht, schließlich erhielten einige der Schwestern regelmäßig Besuch. Doch wie sollte ein Außenstehender von ihrer Entdeckung erfahren haben?
Vor ihrer Zelle blies sie die Kerze aus. Hinter der Tür brannte ein Licht, das der Ordensregel zufolge die ganze Nacht über zu leuchten hatte. Eine kleine Öffnung in der Zellentür sagte ihr, dass dies noch immer der Fall war. Als sie die Tür öffnete, erlosch das Licht, und Suor Francesca seufzte. Dieses Gebäude bestand aus einem einzigen Luftzug. Sie schloss die Tür hinter sich undgriff nach Feuerstahl und Zunderschwämmchen. Wenn sie sich beeilte, konnte ein einziger Funke das Öl wieder entzünden. Suor Francesca roch den Eindringling, bevor sie ihn sehen konnte.
»Wer ist da?«, hauchte sie in den schmalen Raum hinein. »Was wollt Ihr hier?«
Sie ging rückwärts, tastete nach der Tür. Doch die unbekannte Person war schneller. Sie glitt auf sie zu, als schwebe sie. Ein Stockhieb zischte an ihr vorbei und trieb sie in den Raum hinein.
»Bleib, Francesca, wir wollen uns unterhalten.« Die Stimme gehörte keinem Menschen. Sie besaß etwas Blechernes, klang melodisch und dennoch kalt. So hatte sie sich immer die Stimme des Herrn der Finsternis vorgestellt – und doch war sie ihr zutiefst vertraut.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Ihr habt hier nichts verloren. Was fällt Euch ein?«, versuchte sie sich zu verteidigen.
»Du hast ihn entdeckt? Du hast den Goldenen Weg entdeckt? Jede, die so lange in diesem Kloster haust wie du, weiß, was das bedeutet.«
Suor Francesca erschauerte. Die Nacht war so undurchdringlich, und die Stimme klang so monströs und bedrohlich, dass ihre Unterlippe unwillkürlich zu zittern begann. Woher wusste der Fremde vom Goldenen Weg?
Die Empörung über das Eindringen eines Mannes in ihr Allerheiligstes gab ihr den Mut zurück.
»Nichts weiß ich«, zischte sie. »Und jetzt raus aus dieser Zelle.« Die Stimme des Eindringlings klang bedauernd und verbreitete dennoch eine eisige Kälte. »Das ist schade, denn dann weißt du nicht einmal, wofür du stirbst.« Die Stimme lachte so nahe an ihrem Ohr, dass es ihr unwillkürlich die Haare aufstellte. »Zuvor aber wirst du mir dein Geheimnis anvertrauen, Francesca.«
E RSTER T EIL
D ER S CHATTEN IM
K REUZGANG
KAPITEL 1 Grau wischte der Morgen über den Himmel, als reinige er ihn vom Staub der Nacht. Die Gondel schaukelte aus dem schmalen Kanal des
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