Die Bourne-Identität
lange, gebräunte Beine und einen eleganten Gang. Ihre Schuhe hatten hohe Absätze. Unter dem eng anliegenden weißen Rock zeichneten sich ihre Schenkel und Hüften deutlich ab. Chamford mochte Probleme haben, aber jedenfalls hatte er Geschmack.
Zwanzig Minuten später konnte der Patient den weißen Rock durch das Fenster sehen; das Mädchen ging nach oben. Kaum sechzig Sekunden danach füllte eine andere Gestalt den Fensterrahmen aus; sie trug dunkle Hosen und einen Blazer und tappte vorsichtig die Treppe hinauf. Er zählte die Minuten; hoffentlich besaß der Marquis de Chamford eine Uhr.
Seinen Seesack so unauffällig wie möglich an den Gurten tragend, betrat der Patient über den gepflasterten Weg das Restaurant. Drinnen bog er im Vorraum nach links, schob sich an einem älteren Mann vorbei, der mit ihm die Treppe hinaufging, erreichte das Obergeschoß und bog wieder nach links. Er lief einen langen Korridor hinunter, der zum hinteren Teil des Gebäudes führte, der über der Küche lag, passierte die Waschräume und stieß schließlich am Ende des schmalen Flurs eine geschlossene Tür auf. Dort blieb er reglos stehen, den Rücken gegen die Wand gedrückt. Er drehte den Kopf und wartete darauf, bis der ältere Mann die Toilette erreicht hatte und die Tür öffnete, während er sich den Reißverschluß an der Hose aufzog.
Der Patient nahm seinen Seesack und legte ihn -instinktiv, ohne darüber nachzudenken - gegen die Türfüllung. Er hielt ihn mit ausgestreckten Armen fest und schmetterte mit einer einzigen schnellen Bewegung die linke Schulter dagegen. Die Tür sprang auf. Niemand unten im Restaurant konnte etwas gehört haben.
»O Gott, wer ist da?«
»Ruhe!«
Der Marquis de Chamford löste sich von dem nackten Körper der blonden Frau und taumelte über den Bettrand auf den Boden. Er wirkte wie ein Bild aus einer Operette: Immer noch trug er sein gestärktes Hemd, eine gutsitzende Krawatte und seidene, bis zum Knie reichende schwarze Socken; aber das war alles. Die Frau griff nach der Decke und bemühte sich, dem Augenblick die Peinlichkeit zu nehmen.
Der Patient erteilte rasch seine Befehle: »Keinen Laut! Wenn Sie genau tun, was ich sage, passiert niemandem etwas.«
»Meine Frau hat Sie angestellt!« schrie Chamford mit lallender Stimme und wirrem Blick. »Ich bezahle Ihnen mehr.«
»Das fängt gut an«, antwortete Dr. Washburns Patient. »Ziehen Sie Ihr Hemd und die Krawatte aus. Die Socken auch.« Da sah er das glänzende Goldband am Handgelenk des Marquis. »Und die Uhr.«
Ein paar Minuten später war die Verwandlung perfekt. Die Kleider des Marquis paßten zwar nicht nach Maß, aber niemand würde leugnen können, daß es sich um erstklassiges Tuch und einen hervorragenden Schnitt handelte. Die Uhr war im übrigen eine Girard Perregaux, und Chamfords Brieftasche enthielt über dreizehntausend Franc. Auch die Wagenschlüssel waren eindrucksvoll: Sie hatten Anhänger aus Sterling-Silber, die sein Monogramm trugen.
»Um Himmels willen, geben Sie mir meine Kleider!« sagte der Marquis, bei dem die Lächerlichkeit seiner Situation langsam den Alkoholdunst hatte durchdringen können.
»Tut mir leid, aber das kann ich nicht«, erwiderte der Eindringling und sammelte seine eigenen Kleider und die der Blondine auf.
»Aber meine können Sie doch nicht nehmen!« schrie sie.
»Ich hab' Ihnen gesagt, daß Sie ruhig sein sollen.«
»Schon gut, schon gut«, fuhr sie fort, »aber Sie können nicht ...«
»Doch, ich kann.« Der Patient sah sich im Zimmer um; auf einem niedrigen Tisch am Fenster stand ein Telefon. Er ging darauf zu und riß das Kabel aus der Wand. »Jetzt wird Sie niemand stören«, sagte er und griff nach seinem Sack.
»Damit kommen Sie nicht durch, das wissen Sie doch«, herrschte Chamford ihn an, »Die Polizei wird Sie finden!«
»Die Polizei?« fragte er. »Glauben Sie wirklich, daß Sie die Polizei rufen sollten? Dann wird ein ausführlicher Bericht geschrieben, und Sie werden alle Einzelheiten schildern müssen. Ich bin nicht so sicher, daß das eine besonders gute Idee ist. Sie wären wohl besser dran, wenn Sie auf den Burschen warteten, der Sie heute nachmittag abholen soll. Ich hörte, daß er Sie an der Marquise vorbei in den Stall schmuggeln will. Wenn man alles bedenkt, finde ich, wäre dies das beste für Sie. Ich bin überzeugt, daß Ihnen eine gute Geschichte für das einfällt, was Ihnen passiert ist. Ich werde Ihnen nicht widersprechen.«
Der unbekannte Dieb verließ
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