Die Brandungswelle
auch von der Zeit, als er noch politisch aktiv gewesen war, in der Hoffnung, die Welt verändern zu können.
Dann spazierten wir eng umschlungen durch die Gassen. Es war noch kälter als in La Hague, aber hier wehte kein Wind.
In dieser Nacht ging ich zu ihm. Seine Tür war nicht abgeschlossen. Ich musste sie nur öffnen. Er stand am Fenster. Er sagte nichts. Er hatte mich erwartet.
A m nächsten Tag wachten wir erst spät auf. Wir frühstückten rasch in einem leeren Saal.
Lambert wollte mir eine kleine Kirche zeigen, die Eglise Saint-Hugues. Dort hingen Bilder des Malers Arcabas, ein Kreuzweg, gemalt mit Farben, die aussahen wie Gold.
Wir hielten an, um das eisige Wasser zu berühren, das in einem Bach floss. Wir sahen Forellen.
Dann fuhren wir zum Kloster.
Wir stellten das Auto etwas weiter unten ab. Es war das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz.
Ein Weg führte an Wiesen entlang, er war von sehr alten Bäumen gesäumt, deren gewundene Wurzeln auf der Erde lagen. Das Kloster befand sich am Ende dieses Wegs. Von Bergen umgeben.
Dieser Ort strahlte ein Geheimnis, eine besondere Aura aus, das spürte ich, noch ehe ich das erste Dach gesehen hatte.
Das Kloster tauchte auf, fast unverhofft, eine dicke, in den Boden gerammte Mauer, ringsum ein paar Weiden mit Kühen, Bäumen, blauen Berghängen, Tannen. Wir blieben stehen. Der Ort lag so fern von allem, wie es auch in La Hague manchmal zu spüren war. Aber dieser Ort war heilig. Sogar die Bäume schienen zu beten. Die Steine am Wegrand.
Ich strich mit den Fingern über die dicke Rinde eines Baums. Die Hopi-Indianer sagen, dass es genügt, einen Stein in einem Flussbett zu berühren, damit das ganze Leben des Flusses verändert wird.
Es genügt eine Begegnung.
Lambert nahm meine Hand. Ganz einfach. Er drückte sie, und wir gingen weiter. Ohne etwas zu sagen. Dieser Berg wurde vom Schweigen getragen, er war davon durchdrungen, das geringste Geräusch, das kürzeste Wort wäre wie eine Beleidigung gewesen.
Ich sah die Mauern an. Hinter den Bäumen waren Dächer zu erkennen. Die Menschen, die hier lebten, hatten sich von der Welt zurückgezogen, sie hatten darauf verzichtet, andere Menschen zu sehen. Darauf verzichtet, mit ihnen zu leben.
Ein Leben außerhalb der Zeit.
Für einen Gott.
Wir kamen zum Tor. Dort hing eine Kette, an deren Ende eine schwere Glocke geknotet war. Es war noch zu früh, uns anzukündigen. Also liefen wir weiter den Weg hinauf, der um das Kloster herumführte. Die Luft war frisch, die Sonne strahlte, und die Erde roch gut.
Die Schieferdächer glänzten im Licht. Graue Mauern. Eine Gestalt in der Ferne, an einem Ort, der mir ein Garten zu sein schien. Der Mann lief gebeugt, er trug einen Spaten.
Flüchtige Schatten. Stumme Männer. Ich ahnte ihre unsichtbare Anwesenheit. Ich hätte wie sie sein können. Nach dir hätte ich das tun können, mich hinter Mauern einschließen und nie mehr herauskommen.
U m zwei Uhr standen wir wieder vor dem großen Tor. Michel machte uns auf. Er trug eine lange braune Kutte, die Kapuze auf dem Rücken. Ich sah ihn an, sein Gesicht. Die Menschen, die hier leben, können den anderen nicht ähnlich sein. Sie sind vom Licht erfüllt. Michel erschien mir zeitlos.
Er nahm meine Hände in seine, dann die von Lambert. Er sagte uns, dass er zwei Stunden Zeit habe, bis zur Vespermesse. Wir wechselten ein paar Worte über den langen Weg, den wir zurückgelegt hatten, um hierherzukommen. Er erklärte, die längsten Wege seien oft die notwendigsten. Gehen und meditieren. Er hatte Monate gebraucht, um hierherzukommen. Und Jahre, um zu verstehen, was das wahre Leben war. Er hatte an der Weisheit gerührt. Er war zur Kontemplation gelangt.
Er sagte, dass er eines Tages bis nach Compostela gehen werde.
Über uns strahlte die Sonne auf die Weiden.
Teilte sich die Zeit hier wie anderswo, in Monat und Jahr? Zählte ein Jahr für ihn so viel wie für mich?
Er hatte keine Uhr.
Was bedeuten zwei Jahre, was zehn Jahre für Männer in dieser Zurückgezogenheit? Die Glocken geben der Zeit den Rhythmus, wie die Gezeiten in La Hague.
Er sprach von der Natur, so schön und so stark. Er lächelte wieder. Ein Leuchten aus seinem Innern erhellte sein Gesicht. Nichts schien ihn zu quälen. Und trotzdem war auch das Meer in ihm, das seine Eltern getötet hatte. Er trug es in sich, in stummen Winkeln vergraben. Vergessen. Das Meer. Eine Spur. Vielleicht die Erinnerung an die Kälte.
Erinnerte er sich an Schreie?
An die
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