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Die brennende Gasse

Die brennende Gasse

Titel: Die brennende Gasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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verstörte ihn. Ziemlich niedergeschlagen machte er sich klar, daß seine Behandlung als de Chauliacs Gefangener von ähnlicher Art war wie die Aufmerksamkeit, die er als König Edwards Gast in Windsor Castle genossen hatte. Ich soll mich an den Zustand gewöhnen, dachte Alejandro. Er möchte mich gefügig machen.
    Keine schwierige Aufgabe, dachte er niedergeschlagen. Da ich sonst nur die Härte und Unsicherheit des Lebens auf der Flucht kenne, bringt mich erwartungsgemäß die einfachste Freundlichkeit völlig aus der Fassung. Sein Leben war schwer gewesen, manchmal fast unerträglich. Doch trotz alledem hatte er ein Menschlein großgezogen – ganz gegen die Regel der Natur, nach der ihm die eigene Selbsterhaltung wichtiger hätte sein müssen als die des Kindes eines anderen Mannes. Daß er noch immer alle seine Zähne hatte, war für ihn ein Wunder; denn ein Mann mit weniger Willenskraft würde das knusprige Brot in Wasser tauchen müssen, bevor er es verzehrte, und diesen wunderbaren Apfel nur mit wehmütigen Erinnerungen an das Vergnügen betrachten, hineinzubeißen. Er war immer noch stark und bereit, das Notwendige zu tun, um zu überleben. Wiewohl nicht mehr ganz derselbe wie früher, betraf der Verlust an Kraft doch eher seine Seele als seinen Körper.
    Doch wer kann mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich mi r e inen Moment der Freude gestatte? Es war schlimm genug, einen großen Teil der Nacht in unbewußtem, vergeblichem Streben nach Wiedervereinigung mit jenen zuzubringen, die er liebte; oder er floh vor der Rache eines längst verstorbenen Riesen, aber wachte dann auch noch in der Morgenkälte Tag für Tag mit Blick auf einen elenden Hüttenboden aus gestampfter Erde auf. Er konnte nur annehmen, daß das ein böser Scherz des christlichen Gottes war, der vom Himmel aus auf ihn niederschaute und sein göttliches Vergnügen daran hatte, daß der rastlos wandernde Jude hüpfte und tanzte wie eine Marionette, wenn er an den Fäden des Schicksals zog. In einem sauberen Bett zu erwachen, ohne die Mäuse dicht neben ihm im Stroh rascheln zu hören – welcher Luxus! Er stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete seine behagliche Umgebung. Wenn ich schon ein Gefangener sein soll, dann laß ich es mir nur unter solchen Bedingungen gefallen!
    Er wusch sich, stillte seinen Hunger, indem er mit intakten Zähnen dankbar kaute, und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Manuskript zu. Der Papyrus begann sich mit seinen schönen Schriftzügen zu füllen. Abrahams Worte hatten den Lauf der Zeit mit wunderbarer Frische und Weisheit überlebt. Wenn er ruhig und sorgfältig arbeiten konnte wie jetzt, schritt die Übersetzung stetig voran, und an manchen Stellen freute er sich beinahe über besonders gelungene Wendungen.
    Doch dann stieß er auf einen Absatz, dessen Sinn sich ihm entzog.
    Achtet auf eure Knochen, stand da, auf daß sie nicht brechen. Es gibt unter euch solche, denen es mangelt an – was war das für ein Wort? Er konnte die Bedeutung der archaischen Schriftzeichen nicht entziffern. Knochen des Rückens, lautete die wörtliche Übersetzung. Im Zusammenhang des Textes konnte es nur Rückgrat bedeuten. Aber warum eine so spezifische und detaillierte Ermahnung, wenn sonst keine Fragen der persönlichen Gesundheit eingehender erörtert wurden? Und was hatte de Chauliac gesagt, das ihm nun undeutlich wieder ins Gedächtnis kam, während er diese Worte las?
    Er ließ eine Stelle frei, um das Wort einzusetzen, wenn er dessen Sinn endlich erkannt haben würde. Ich werde ihn herausfinden, versicherte er sich selbst. Gerade schrieb er die ersten Worte des nächsten Absatzes, als ein Klopfen an der Tür ertönte.
    Es gab auf der Innenseite keinen Türknauf – de Chauliac hatte ihn vom gleichen unbeholfenen Zimmermann entfernen lassen, der kürzlich auch das offene Fenster mit Gittern versah. Das Klopfen war also reine Höflichkeit. Seine allgegenwärtigen Bewacher kontrollierten jeden Besucher, und nach ein paar Sekunden trat einer von ihnen ein, die Augen niedergeschlagen.
    Alejandro verdroß es, daß sie seinem Blick stets auswichen. Warum sieht mich keiner von ihnen je direkt an ? Bin ich einfach ein Gegenstand, den sie auf Befehl ihres Herrn von hier nach da transportieren? Vielleicht war es indessen Diskretion, die sie dazu veranlaßte … in einem so eleganten Haus mußten sich sogar die Wachleute ordentlich benehmen können.
    Doch dann kam ihm eine verblüffende Erkenntnis: Sie fürchten mich. Aber

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