Taxi
1. Teil
1984–1986
1
So ging das nicht weiter. Ich hatte die Ausbildung bei der Versicherung abgebrochen, die einzige Ausbildung, die ich je angefangen hatte. Danach versuchte ich, ohne Geld von Hamburg nach München zu laufen, in der Hoffnung, dass sich unterwegs irgendetwas ergeben würde. Ich hätte ja zum Beispiel mitten im Wald auf ein Auto stoßen können, ein Auto mit einem halbverwesten Toten hinter dem Lenkrad. Und neben ihm, auf dem Beifahrersitz, hätte zwischen lauter Maden ein Koffer mit zehntausend Hundert-Mark-Scheinen in unsortierter Nummerierung gelegen. Hätte doch sein können. In Göttingen wickelte ich das, was von meinen Füßen übrig war, in ein doppeltes Paar Socken und trampte wieder nach Hamburg zurück.
»Ich hoffe, du weißt, was du zu tun hast, wenn du in der Gosse gelandet bist«, sagte mein Bruder, »nicht, dass einer von der Familie nachher noch für dich aufkommen muss.«
Mein Bruder tat immer so, als wäre unsere Familie eine verschworene Gemeinschaft, in der nur ich querschießen würde, aber in Wirklichkeit wohnte er mit mir zusammen in einer Gartenlaube, die unser Vater auf der Rasenfläche hinter seinem Haus hochgezogen hatte, um uns beide nicht mehr sehen zu müssen. Die Laube hatte zwei Zimmer, für jeden eins. Ein Badezimmer gab es nicht, dafür mussten wir zum Haus rüber laufen. Bei Schnee und Regen und in finsterster Nacht. Gewöhnlich saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett, lehnte den Rücken gegen das Kopfkissen und die schlecht isolierte Holzwand und las ein Buch über Schimpansen. Oder ich sah aus dem Fenster in die Zweige eines giftigen Goldregens. Ich musste mir langsam etwas einfallen lassen. Meine ehemaligen Mitschüler studierten schon seit anderthalb Jahren, und wenn ich nichts tat, würden sich meine Eltern wieder irgendeinen langsamen Tod in einem Büro für mich ausdenken.
Ich fing an, die Stellenanzeigen in der Bild-Zeitung zu lesen. Gesucht wurden Mitreisende für Drückerkolonnen, Barfrauen auf Provision und Taxifahrer. Drückerkolonne ging nicht, weil ich ja überhaupt kein Durchsetzungsvermögen hatte. Ich hoffte immer noch, dass sich irgendetwas von selbst ergeben würde, etwas Großes und Besonderes, ohne dass ich deswegen selber handeln musste oder gezwungen war, Entscheidungen zu fällen, die ich dann den Rest meines Lebens zu bereuen hatte. Aber bis es so weit war, konnte ich ja Taxi fahren. Ich meldete mich auf eine Anzeige, in der nicht nur Taxifahrer, sondern ausdrücklich auch Taxifahrerinnen gesucht wurden. 1984 war es in Stellenanzeigen noch nicht üblich, jedem Beruf auch noch eine weibliche Endung anzufügen. Man tat es nur, wenn man andeuten wollte, dass man praktisch jeden nahm.
2
Ich bestand die Führerscheinprüfung zur Fahrgastbeförderung, weil ich alle Straßen aufzählen konnte, die vom Klosterstern abgingen, und weil ich wusste, dass die Farbe, in der sämtliche Taxis gestrichen waren, RAL 1015 hieß – hellelfenbeinfarben, also wie blasser Eiter. Den Verbindungsweg vom Horner Kreisel in die Elbvororte hatte ich allerdings nicht mehr parat, obwohl ich wochenlang Verbindungswege auswendig gelernt hatte und sie auch noch alle mit dem Fahrrad abgefahren war. Das Ganze fand im Verkehrsamt statt. Die beiden Prüfer saßen hinter einem Tisch, die Beine ausgestreckt und die Stühle weit zurückgeschoben, damit ihre Bäuche vor die Tischplatte passten. Ich saß mit einem älteren Türken und zwei Studenten vor ihnen – nebeneinander wie Zielscheiben. Ohne Tische.
Ich legte langsam das linke Bein über das rechte und fragte einen der dicken und unsympathischen Prüfer, ob ich mit dem Aufzählen der Straßen nicht andersherum, nämlich in den Elbvororten beginnen dürfe. Erstaunlicherweise hatte er nichts dagegen.
»Elbchaussee …«, fing ich an, »Elbchaussee … also die ganze Zeit erst mal die Elbchaussee entlang … äh, kilometerweit … dann Königstraße … Reeperbahn … dann auf den Ring Eins, nein falsch, lieber weiter auf der Ost-West-Straße, beim Rödingsmarkt in den Großen Bustah, Steinstraße hoch und dann äh, Berliner Tor, äh … Berliner Tor … und die Hammer Dings …«
Hamm und Horn, Horn und Hamm, diese einsilbigen Nachkriegsstadtteile voll identischer Wohnblocks, Rentner und Kleingärten bekam ich ständig durcheinander!
»Äh … Berliner Tor durch und immer geradeaus die … äh …«
Ich riss die Augen weit auf und flatterte hilflos mit den Wimpern.
»Genau. Und so weiter und so fort«, sagte der
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