Die Bruderschaft der Nacht: Thriller (German Edition)
Belastungsstörung«, sagte er. »Selbstmorde sind ihre Spezialität.«
Die Sonne stieg höher. Aus dem Morgen war ein wunderschöner Sommertag mit klarem blauen Himmel und einem leichten Windhauch geworden, aber Ronald und ich saßen nicht mehr draußen. Er hatte mich in sein kleines Büro mitgenommen, von dem aus er die Concerned Veterans of Maine leitete. Die Wände waren voller Zeitungsausschnitte, Tabellen über Todesopfer und Fotos. Genau über Ronalds Computer hing eines, auf dem eine Frau abgebildet war, die ihrem verwundeten Sohn ins Bett half. Das Bild war von hinten aufgenommen worden, so dass nur das Gesicht der Mutter zu sehen war. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, was mit dem Foto nicht stimmte: Dem jungen Mann fehlte fast der halbe Kopf, und alles Übrige war ein Netz aus Narben und Kratern und sah aus wie die Oberfläche des Mondes. Das Gesicht der Mutter verriet eine Vielzahl von Gefühlen, die zu verzwickt waren, als dass man sie deuten konnte.
»Eine Granate«, sagte Ronald. »Er hat vierzig Prozent seines Gehirns verloren. Er wird für den Rest seines Lebens ständig gepflegt werden müssen. Seine Mutter sieht nicht mehr jung aus, was?« Er sagte es so, als fiele es ihm zum ersten Mal auf, obwohl er tagtäglich daraufstarrte.
»Nein, tut sie nicht.«
Und ich fragte mich, was besser wäre: Wenn er vor seiner Mutter sterben würde, damit seine Schmerzen vorüber wären und ihre sich anders äußern könnten, weniger herzzerreißend vielleicht. Oder wenn er sie überlebte, damit sie ihn noch eine Zeitlang bei sich hatte, ihm eine Mutter sein konnte, so wie einst als Kleinkind, als die Möglichkeit eines solchen Lebens nur in ihren schlimmsten Alpträumen vorgekommen wäre. Ersteres wäre am besten, dachte ich, denn wenn er zu lange lebte, wäre sie eines Tages fort, und irgendwann würde er zu einem Schatten in der Ecke eines Zimmers werden, ein Name ohne Vergangenheit, von anderen vergessen und seinerseits ohne jede Erinnerung.
Inmitten von all dem sprach Ronald mit mir über Selbstmorde und Obdachlosigkeit, über Sucht und Alpträume, über Männer ohne Gliedmaßen, die kämpfen mussten, um vom Militär ihre volle Invalidenrente zu bekommen, über unerledigte Ansprüche, die sich bereits auf über 400 000 beliefen und immer mehr wurden. Und er erzählte von denen, deren Narben nicht sichtbar waren, die psychisch, aber nicht physisch versehrt waren und deren Opfergang deshalb von ihrer Regierung noch nicht anerkannt wurde, da man ihnen ein Verwundetenabzeichen verweigert hatte. Und während er redete, wurde er immer wütender. Er hob nie die Stimme, ballte nicht einmal die Faust, aber ich spürte, wie Wut von ihm abstrahlte wie Hitzewellen von einem Radiator.
»Es sind die verdeckten Kosten«, sagte er schließlich. »Eine Panzerweste schützt den Oberkörper, und ein Helm ist besser als kein Helm. Die medizinische Versorgung wird immer besser und schneller. Aber wenn neben dir oder unter deinem Hummer eine Sprengfalle hochgeht, kannst du einen Arm oder ein Bein verlieren oder einen Splitter in den Nacken abkriegen, so dass du ein Leben lang gelähmt bist. Heutzutage kann man mit fürchterlichen Verwundungen überleben, aber möglicherweise wünscht man sich, man wäre tot. Man schaut in die New York Times oder in USA Today, auf den kleinen Kasten, in dem sie die schlechten Nachrichten bringen, und sieht, dass die Zahl der Todesopfer im Irak und in Afghanistan ständig zunimmt, aber nicht mehr so schnell wie einst, im Irak jedenfalls, und man denkt, vielleicht wird alles besser. Wird es auch, wenn man nur die Toten zählt, aber man muss die Zahlen mit zehn multiplizieren, um auch die Verwundeten zu erfassen, und selbst dann weiß man nicht, wie viele Schwerverwundete darunter sind. Einer von vier Heimkehrern aus dem Irak oder aus Afghanistan braucht medizinische oder psychologische Behandlung. Manchmal bekommen sie sie nicht in dem Umfang, wie es sein sollte, und selbst wenn sie Glück haben und ein bisschen was von dem kriegen, was sie brauchen, versucht die Regierung sie ständig kurzzuhalten. Du hast keine Ahnung, wie schwer es ist, die volle Invalidenrente zu kriegen, und dann wollen die gleichen Männer, die diese Soldaten in den Krieg geschickt haben, das Walter Reed schließen, um ein paar Dollar einzusparen. Das Walter Reed . Die führen zwei Kriege und wollen das wichtigste Militärkrankenhaus schließen, weil sie meinen, es kostet zu viel Geld. Hier geht es nicht darum, ob
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