Die Bruderschaft vom Heiligen Gral 01 - Der Fall von Akkon
an, richtete seinen Blick auf den Brotfladen und konzentrierte sich auf die Aufga be, die er sich vorgenommen hatte. Diesmal fand er die Verbindung zu jener geheimnisvollen inneren Quelle schneller als bei seinen ersten Versuchen an Bord der Calatrava. Ihm war, als würden seine physischen Kräfte und sein Wille den Weg nun kennen, den sie ge hen mussten, um eins zu werden und die göttliche Segensgabe in ihm zur Entfaltung zu bringen. Er spürte, dass alle anderen Gedanken und Wahrnehmungen von ihm wichen, und wie eine heiße Fontäne stieg in ihm die heilige Kraft auf, mit der er im unterirdischen Heiligtum von Akkon gesegnet worden war. Es war ein kräftezehrendes Brennen, das auch diesmal wieder seinen Körper erfüllte und das er besonders stark hinter seiner Stirn wahrnahm. So deutlich, als hätte er seine Hand nach dem Brot ausgestreckt und es berührt, spürte er im nächsten Moment den Widerstand, den ihm der Fladen entgegenstellte. Der Schweiß brach ihm aus. Doch es gelang ihm, in der inneren Kraftanstrengung nicht nachzulassen, und dann begann sich der Fladen tatsächlich zu bewegen. In den Kerker fiel durch die Luftschächte kaum noch Licht. Dennoch bemerkte der zerlumpte Fremde, dass sich der Brotfladen bewegte – und nun langsam, aber zielstrebig über den Boden auf ihn zuglitt. Wie von einem Skorpion gestochen fuhr er zusammen, brachte sich in eine hockende Stellung und presste sich entsetzt an die Wand, als fürchtete er, gleich von einem Teufel angesprungen zu werden. »Fürchte dich nicht!«, rief Maurice ihm zu. »Es ist mein Freund, der dir das Brot zuschiebt! Ich weiß, es klingt verrückt, aber es ist so. Hab Vertrauen, Fremder! Es sind die guten Kräfte des Himmels, die das Wunder bewirken!« Der Kopf mit dem verfilzten grauschwarzen Vollbart und dem nicht weniger wilden Haupthaar fuhr zu Gerolt und Maurice herum. Einen langen Augenblick kauerte der Mann wie erstarrt an der Wand. Mit einer letzten Kraftanstrengung brachte Gerolt den Brotfladen in die Reichweite des Fremden. Verschwitzt und erschöpft, sackte er gegen das Gitter. »Nimm und iss!«, rief er ihm atemlos zu. »Du musst sehen, dass du wieder zu Kräften kommst.« Ganz langsam streckte der Beduine die zitternde Hand nach dem Brot aus. Er zögerte noch einmal. Dann jedoch gewann der bohrende Hunger wohl die Oberhand über die Furcht und er packte zu. Mit beiden Händen, die wie unter einem Schüttelanfall bebten, führte er den Fladen zum Mund und biss vorsichtig hinein. Die ersten Bissen kaute er ganz langsam. Er schien sich förmlich dazu zu zwingen, das Brot nicht gierig in sich hineinzuschlingen. Plötzlich hielt er inne und presste das Brot vor sein Gesicht. Mittlerweile war es im Kerkergewölbe so dunkel geworden, dass Gerolt bloß noch die vagen Konturen des Beduinen hinter dem Git ter ausmachen konnte. Aber er hatte den Eindruck, als zuckten die Schultern des Mannes unter einem stummen Weinkrampf. Er wartete eine Weile. Dann fragte er, was er ihn schon am ersten Abend gefragt hatte, ohne eine Antwort erhalten zu haben: »Wie heißt du?« Der Mann ließ kurz den Brotfladen sinken, antwortete jedoch auch diesmal nicht sogleich. Er ließ lange Sekunden verstreichen. Dann jedoch kam aus dem gegenüberliegenden Gewölbe eine schwache, gutturale Stimme: »Dshamal Salehi.« Gerolt hatte das Gefühl, innerhalb weniger Minuten einen zweiten, kostbaren Sieg errungen zu haben. »Gib die Hoffnung nicht auf, Dshamal Salehi!«, rief er ihm zu, noch immer nach Atem ringend. »Tu ihnen nicht den Gefallen, dich aufzugeben. Noch ist die letzte Schlacht nicht geschlagen, verlass dich drauf! Der Emir mag glauben, uns fest in seiner Hand zu haben, aber er irrt! Der Tag unserer Befreiung ist nicht fern! Und wir werden dich nicht zurücklassen, ich gebe dir mein Wort!« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als ihm bewusst wurde, zu welch lächerlichem Versprechen er sich hatte hinreißen lassen. Maurice gab in seinem Rücken ein leises, bissiges Auflachen von sich, das keiner besonderen Erklärung bedurfte. Scham und Ernüchterung überkamen Gerolt und mit der feuchten, stinkenden Dunkelheit, die sich nun endgültig um sie schloss, kroch auch die Angst in ihm hoch. Die Angst, dass all ihr Gold und ihre Edelsteine sie nicht vor einem elenden Ende an diesem entsetzlichen Ort bewahren würden. Und dass sie auf Tarik große Hoffnungen setzten, die er vielleicht gar nicht erfüllen konnte – ja, womöglich gar nicht erfüllen durfte. Denn wenn er
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