Die Narbe
1
»Man darf nichts persönlich nehmen«, sagte der Mann. »Das ist das Wichtigste überhaupt im Leben, verstehst du?«
Er ließ den Würfel in der offenen Handfläche rotieren und dann über die Spielfläche des »Mensch-ärgere-dich-nicht« rollen.
Vier.
Der Mann, um die fünfzig, gepflegte Erscheinung, schwarzer Anzug, dunkle Krawatte, weißes Hemd, schüttelte den Kopf. Er hätte eine Eins gebraucht, denn drei rote Püppchen waren bereits im Haus postiert, das vierte wartete genau vor dem Eingang.
Sein Gegenüber, ein junger Mann, unrasiert, mit schulterlangem, fettigem Haar, antwortete nicht. Wie sollte er auch, sein Mund war mit einem breiten Plastikstreifen zugeklebt. Die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden, die Unterschenkel mit Handschellen an den Stuhlbeinen fixiert. Er ließ den Kopf auf die Brust fallen und schloss die Augen.
Außer den beiden befand sich niemand in dem fensterlosen Raum.
»Es hat im Grunde nichts mit dir oder mir zu tun«, sagte der Ältere, legte den Würfel kurz an seine Lippen und küsste ihn, bevor er ihn rollen ließ. »Irgendwer, vielleicht Gott oder das Schicksal, hat dich auf deinen Stuhl gesetzt und mich auf meinen. Also kein Grund, sich aufzuregen. Es ist alles nur ein Spiel. Nimm es nicht persönlich, okay?«
Eins.
Gerald van Loren wachte auf. Sein Nacken schmerzte. Er schaute nach vorne auf die Leinwand, wo der Mann in dem edlen Anzug langsam eine Pistole aus der Innentasche seines Jacketts zog und seinem Gegenüber sechs Mal in den Kopf schoss.
Langsam ließ Gerald den Kopf kreisen. Er fühlte sich so groß und schwer an wie eine Wassermelone. Der Mund war trocken, die Lippen spröde. Jede Bewegung in dem schmalen Sitz schmerzte, er fühlte jeden einzelnen Wirbel seines Rückens, als hätte er zehn Stunden auf dem Fußboden gelegen. Schließlich rutschte er noch tiefer in seinen Sitz und schloss erneut die Augen.
Er wachte erst wieder auf, als sich der Vorhang mit einem sirrenden Geräusch zuzog. Geduldig wartete er, bis die letzten Zuschauer den Saal verlassen hatten. Gerald versuchte erst gar nicht, sich an die Handlung des Films zu erinnern. Er hatte vielleicht ein Zehntel mitbekommen. Es störte ihn nicht, denn er war nicht ins Kino gegangen, um einen Film zu sehen.
Geralds Beine fühlten sich taub an, er musste sich am Geländer festhalten, als er die Treppe zum Erdgeschoss nahm. Ein süßlich-warmer Duft nach Popcorn empfing ihn. Vor der Theke im Foyer warteten einige Jugendliche mit Pappbechern in der Hand.
Ich habe tatsächlich geschlafen, dachte er. Zum ersten Mal seit zwei Nächten, in denen sich sein vier Monate alter Sohn mit einer fürchterlichen Mittelohrentzündung quälte. Trotz des Großeinsatzes von Medikamenten, Antibiotika, Alternativmedizin, Zwiebelumschlägen und dubioser Geheimmittel (Gerald, der Ex-Raucher, hatte den Rauch einer Zigarette in das Ohr des Kindes geblasen) hatte Severin gefühlte vierundzwanzig Stunden durchgeschrien. Nele war fix und fertig, Gerald war fix und fertig; und nachdem sein Sohn, ein erbarmungswürdiges Bündel aus Schmerz, Fieber und Blässe auch an diesem Abend aus einem dünnen Halbschlaf erwacht war und zu schreien begonnen hatte, war Gerald fluchtartig aus der Wohnung getürmt. Auf der Straße hatte er zuerst überlegt, zu seiner Mutter zu fahren und Asyl in seinem ehemaligen Kinderzimmer zu suchen. Doch dann hätte es nur bohrende Fragen gegeben, und dieser Situation hatte er sich unter keinen Umständen aussetzen wollen.
Als Gerald das Kino am Goetheplatz verließ, war die Luft angenehm mild. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr.
Er schaltete das Handy an: keine SMS, keine Nachricht auf der Mailbox. Mit anderen Worten: Nele hatte mit Severin nicht in die Kinderklinik fahren müssen. Er schickte ein Dankgebet in den Abendhimmel.
Andererseits bedeutete es nicht, dass es Severin tatsächlich besser ging. Gerald sah sich in der Pflicht, Nele zu entlasten, aber er konnte zumindest im Café Blue noch ein oder zwei Weißbier trinken. Als er die Lindwurmstraße stadtauswärts entlangging, sah er drei Streifenwagen, die mit eingeschaltetem Blaulicht die Straße in beide Richtungen blockierten. Eine Menschentraube hatte sich um einen Hauseingang formiert. Darunter ein älterer Mann, der einen ausgewaschenen Pullover über einem Pyjama trug und ein Bierglas in den Händen hielt. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, die Leute zurückzudrängen und zum Weitergehen aufzufordern. Doch die Angesprochenen
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