Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
eines Lantriers, trug ein Gewand aus teurem rotem Samt und einen reich verzierten Hirtenstab. Seine Lippen waren voll, fast weiblich, die Augen in dem rundlichen Gesicht schmal. Gyle spürte ein Prickeln auf der Haut – die Gnosis-Schilde des Priesters. Kirchenmagi waren stets übervorsichtig.
Der Bischof warf die schwarzen Locken zurück und streckte eine überreich mit Ringen geschmückte Hand vor. »Herren von Noros, seid Ihr bereit, der heiligen Zeremonie beizuwohnen?«
Vult küsste die Hand des Bischofs. »Ganz begierig darauf, Vater Crozier.« Alle Bischöfe der Kirche Kores legten ihren Familiennamen ab und nahmen den Nachnamen Crozier an. Dieser hier war mit dem Grafen von Beaulieu verwandt und galt als der kommende Mann in der kirchlichen Hierarchie.
»Nennt mich Adamus, meine Herren.« Der Bischof lehnte seinen Stab an die Wand und streifte mit dem Lächeln eines Kindes, das sich gerade verkleidet, eine ebenso graue Kutte über, wie seine beiden Begleiter sie trugen. »Wollen wir?«
Er führte sie einen dunklen Gang entlang und dann eine bröckelige Steintreppe hinauf. Mit jedem Schritt wurde der Lärm von draußen lauter: Rufe und Geschnatter der aufgeregten Menge, schmetternde Trompeten, das Donnern von Trommeln, Priestergesänge, das Gebrüll der Soldaten und das Getrampel von tausend Paar Stiefeln. Sie fühlten es durch die Mauern hindurch, und die Luft selbst schien auf ihrer Haut zu vibrieren. Dann hatten sie das Ende der Treppe erreicht und traten hinaus auf einen winzig kleinen Balkon über dem Place d’Accord. Wie eine Wand schlug ihnen der Lärm entgegen und betäubte ihre Sinne.
»Großer Kore!«, rief Gyle Vult zu, der voller Staunen nur lachte. Beide Männer waren weit herumgekommen, aber keiner von ihnen hatte je etwas Vergleichbares gesehen. Dies war der Place d’Accord, das Herz der Stadt Pallas, die das Herz von Rondelmar war, dem Herzen von Yuros und damit des ganzen Reiches. Und dies war die Bühne, auf der sich sogleich vor einer beängstigend großen Menschenmenge eine gigantische Zurschaustellung von Macht und Politik zutragen würde. Monumentale Gold- und Marmorstatuen ließen die Menschen zu ihren Füßen wie Zwerge aussehen – Riesen, die gekommen waren, um das Schauspiel zu bezeugen. Kohorte um Kohorte marschierten die Soldaten vorbei, der Schritt der Legionäre wie Trommelschlag, der Puls der Macht. Über ihnen kreisten Windschiffe, gigantisch große Kriegsmaschinen, die der Schwerkraft trotzten und in der Mittagssonne riesige schwarze Schatten warfen. Scharlachrote Banner wehten im sanften Nordwind, darauf der Löwe von Pallas, das Szepter und der Stern des Herrschergeschlechts Sacrecour.
Gyle blickte hinüber zur königlichen Loge etwa eine Furchenlänge zu seiner Linken, unter der die Legionäre mit zum Gruß erhobenem Arm vorbeimarschierten. Winzig glitzerten die hohen Herrschaften in Scharlachrot und Gold: seine Kaiserliche Majestät Constant Sacrecour mit seinen kränklichen Kindern, verschiedenste Grafen und Lordschaften, Prälaten und Magi. Alle waren sie gekommen, um Zeugen eines noch nie da gewesenen Ereignisses zu werden: Heute sollte eine Lebende in den Heiligenstand erhoben werden.
Gyle stieß einen leisen Pfiff aus. Er war immer noch verblüfft darüber, dass jemand den Mut zu solcher Blasphemie aufbrachte, aber dem Jubel der Menge nach zu urteilen, schien das Volk die Heiligsprechung gutzuheißen.
Eine Abordnung der Kavallerie ritt im Tölt vorbei, gefolgt von einer Gruppe auf dem letzten Feldzug erbeuteter Elefanten, dahinter die karnischen Reiter auf ihren riesenhaften Kampfeidechsen. Ohne auf das erschrockene Keuchen und die weit aufgerissenen Augen der Menge zu achten, führten sie die Tiere, deren Schuppen in allen Farben des Regenbogens schillerten, durch das Spalier der Zuschauer. Die Echsen fauchten und schnappten in alle Richtungen, aber ihre Reiter hielten sie eisern im Zaum und starrten stur geradeaus bis auf den Moment, als sie die kaiserliche Loge passierten und den Kopf zum Gruß erhoben.
Gyle dachte mit Schaudern daran, wie es war, einer solchen Streitmacht in der Schlacht gegenüberzutreten. Die Noros-Revolte war ein Desaster gewesen. Ein Desaster und sein ganz persönlicher Albtraum. Sie hatte ihn geformt, hatte ihn aller Illusionen und jeglicher Moral beraubt. Und wofür? Noros gehörte wieder – durchaus zu seinem Nachteil – zum Kaiserlichen Bund der Nationen. Für das Kaiserreich war Noros nicht mehr als eine lästige Fliege
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