Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
ruhten, war leer. Stattdessen hatte sie die Gebeine Fremder dort begraben. Von Zeit zu Zeit machte sie sich auf und streifte in zahllosen Verkleidungen und unter ebenso vielen Namen durch die Welt, wandelte mal als junge Frau, mal als altes Kräuterweib oder irgendetwas dazwischen durch die Lande wie eine Jahreszeitengöttin des Sollan-Glaubens.
Sie fütterte das Kind nicht, denn das wäre reine Verschwendung gewesen. Nichts durfte verschwendet werden, nicht hier, und am allerwenigsten von ihr, die sich ihre Lebenskraft so teuer erkaufte. Sie warf eine Prise Pulver in die Flammen und beobachtete, wie das Feuer sich von einem blassen Orange zu einem tiefen Smaragdgrün verfärbte. Innerhalb von Sekunden wurde es kälter in der Höhle, obwohl die Flammen immer höher loderten. Dicker Rauch stieg auf, und die Nacht horchte wachsam auf.
Es war Zeit. Aus einem Haufen Tand und Trödel neben ihrem Schoß zog die Frau ein Messer und presste es auf die weiche Brust des Babys. Einen Moment lang fing sie den Blick des Neugeborenen auf, doch sie hielt nicht inne, bereute nichts. Diese Gefühle hatte sie schon in ihrer Jugend verloren. Mehr als tausend Male hatte sie dies hier im Lauf ihres langen Lebens bereits getan, in zahllosen Ländern und auf zwei verschiedenen Kontinenten. Es war genauso unvermeidlich wie essen und trinken.
Sie stieß zu, und der kurze Schrei des Babys verstummte. Als der kleine Mund sich öffnete, legte die Hexe ihre Lippen darauf. Sie atmete ein und spürte, wie sie Kraft schöpfte, mehr als zuvor bei dem Schakal. Wäre das Kind ein wenig älter gewesen, hätte sie noch mehr bekommen, aber sie nahm, was immer sie kriegen konnte.
Die Frau legte das tote Baby auf den Boden. Fleisch für die Schakale draußen. Sie hatte, was sie brauchte, und wartete, bis sich die Energie, die sie eingesogen hatte, in ihrem Innern setzte. Sie spendete ihr Lebenskraft, wie nur die Seele eines Menschen es vermochte. Ihr Blick wurde schärfer, die Lebensgeister kehrten zurück. Erfrischt konzentrierte sie sich auf die Geisterwelt. Es dauerte eine Weile, denn die Geister kannten sie. Aus freien Stücken kamen sie nicht, nur unter Zwang. Doch ein paar von ihnen hatte sie an sich binden können, und aus diesen wählte sie nun ihren Liebling aus. »Jahanasthami«, sang sie seinen Namen und streckte die klebrigen Geistfühler nach ihm aus. Sie stocherte im Feuer herum, fachte die Glut zu neuen Flammen an und streute noch etwas Pulver hinein, damit der Rauch dicker wurde. »Jahanasthami, komm!«
Die Zeit verstrich langsam, bis sich schließlich das Gesicht ihres Geisterführers im Rauch abzeichnete, leer wie eine unbemalte lantrische Karnevalsmaske. Die Augen waren leer, der Mund ein schwarzes Loch. »Sabele«, flüsterte er. »Ich habe gespürt, wie das Kind gestorben ist … Ich wusste, dass du nach mir rufen würdest.«
Sie und Jahanasthami wurden eins. Bilder aus dem Bewusstsein des Geistes strömten in das ihre: Orte und Gesichter, Erinnerungen, Fragen und Antworten. Und wenn der Geist ihr keine Antwort geben konnte, beriet er sich mit den anderen und gab dann an sie weiter, was er erfahren hatte. Sie waren wie ein Netz, aus Myriaden von Seelen gewoben und alle miteinander verbunden, ein Wissensschatz von so gewaltigem Umfang, dass ein einzelnes Gehirn unweigerlich bersten würde bei dem Versuch, alles in sich aufzunehmen. Doch Sabele versuchte, sich durch die endlosen Belanglosigkeiten von Millionen von Leben hindurchzuarbeiten auf der Suche nach dem einen Juwel, das ihr die Zukunft enthüllen würde. Ihr Körper bebte vor Anstrengung.
Stunden vergingen, doch für die Jadugara waren es ganze Zeitalter. Galaxien von Wissen wurden geboren, erblühten und verloschen wieder. Sie trieb in Ozeanen aus Bildern und Geräuschen, wurde verschlungen vom unendlichen Strudel des Lebens, sah Könige ihre Diener um Rat fragen, Priester feilschen und Kaufleute beten. Sie sah Geburten und Tode, Liebe und Mord, bis sie schließlich durch die Geisteraugen eines toten Lakh-Mädchens, das den dörflichen Brunnen heimsuchte, das Gesicht entdeckte, nach dem sie gesucht hatte. Nur einen winzigen Moment lang erblickte sie es, als der Geist durch einen Spalt in einem Vorhang spähte, dann wurde er von den Wächtern vertrieben. Doch dieser winzige Augenblick war genug, und Sabele arbeitete sich näher heran, sprang auf der Jagd von Geist zu Geist. Sie konnte ihre Beute spüren wie eine Spinne am Beben der Fäden in ihrem Netz, und schließlich
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