Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
gewesen, die vorübergehend seine Expansion aufgehalten hatte, aber Noros’ Wunden schwelten noch immer.
Gyle schob den Gedanken beiseite. Niemanden außerhalb von Noros kümmerte diese Erinnerung noch und hier schon gleich gar nicht. Er blickte in die Richtung, in die der Bischof deutete, und bestaunte pflichtschuldig das Fliegende Korps, das gerade auf den Place d’Accord zujagte. Dicht auf dicht kamen die Reihen geflügelter Reptilien hinter den Dächern der Heilig-Herz-Kathedrale in Sicht und stießen vor der Loge nach unten, begleitet von einem ehrfürchtigen – und durchaus verängstigten – Aufschrei der Menge. Kiefer, länger als ein ausgewachsener Mann und mit unterarmlangen Zähnen bewehrt, schnappten zu, und nicht wenige der geflügelten Kreaturen spien Feuer, als sie ihren Kriegsschrei ausstießen. Kreaturen, die es unmöglich geben konnte, ins Leben gerufen von den Kräften der Magi.
Wie sind wir nur auf die Idee gekommen, wir hätten sie schlagen können?
Dann erschallten die Trompeten, und weiße Banner wurden über der kaiserlichen Loge gehisst – das Zeichen für die versammelte Menge zu verstummen, denn nun würde der Kaiser das Wort an sie richten. Gehorsam schwieg das Volk, während eine kleine schmale Gestalt sich von ihrem Thron erhob und vorn an den Balkon trat.
»Mein Volk«, begann Kaiser Constant, und seine hohe Stimme hallte gnostisch verstärkt über den gesamten Platz, »mein Volk, der heutige Tag erfüllt mich mit Stolz und Ehrfurcht. Stolz ob der Erhabenheit unserer versammelten Gemeinschaft, der Gemeinschaft des rondelmarischen Volkes! Zu Recht nennt man uns die größte Nation von Urte! Zu Recht nennt man uns die Kinder Kores! Zu Recht sitzen wir über den Rest der Menschheit zu Gericht! Zu Recht seid ihr, selbst die Geringsten unter euch, unserem Gott mehr wert als alle anderen Völker! Und Ehrfurcht erfasst mich, weil wir trotz aller Widrigkeiten so viel erreicht haben. Ehrfurcht, weil Kore uns für seinen göttlichen Auftrag erwählt hat!«
Constant wurde nicht müde, sein Volk – und damit auch sich selbst – zu verherrlichen, zählte seine Ruhmestaten auf, angefangen von der Niederwerfung des Rimonischen Reiches und der Eroberung Yuros’ bis hin zu den Feldzügen über die Mondflutbrücke und der Unterwerfung der Heiden in Antiopia.
Gyle beeindruckte die kaiserliche Sicht der Geschichte wenig. Er schätzte sich glücklich, zu den wenigen zu gehören, die in einer Version der Ereignisse unterrichtet worden waren, die der Wahrheit ein ganzes Stück näher kam. Das Arkanum, das er besucht hatte, war um Unvoreingenommenheit bemüht gewesen, und die Geschichte, die er kannte, lautete, dass Yuros noch vor fünfhundert Jahren vollkommen zersplittert gewesen war. Die stärkste Macht, das Rimonische Reich, hatte gerade einmal ein Viertel der bekannten Landmasse beherrscht, zu der aber immerhin Rimoni, Silacia, Verelon und ganz Noros, Argundy sowie Rondelmar gehörten. Ständig herrschte Krieg, in der Hauptstadt Rym intrigierten die Dynastien gegeneinander und bekämpften sich. Verschiedene Glaubensrichtungen, die jetzt alle als heidnisch galten, kämpften um die Vorherrschaft. Seuchen kamen, Hungersnöte gingen. Unpassierbar tobte die See. Niemand wäre im Traum auf die Idee gekommen, dass sich hinter den östlichen Meeren ein ganzer Kontinent verbergen könnte.
Dann änderte sich mit einem Mal alles: Wie ein Komet kam Corineus über die Welt und setzte sie in Flammen. Corineus der Retter, geboren als Johan Corin, Sohn einer adligen Familie aus der Grenzprovinz Rondelmar. Er kehrte dem verschwenderischen höfischen Leben den Rücken und entschied sich für ein einfaches, ungebundenes Leben unter freiem Himmel. Johan Corin reiste umher, predigte von freier Liebe und anderen verheißungsvollen Dingen, scharte eine Anhängerschaft um sich, die im Lauf der Zeit auf gut und gern tausend junge Leute anwuchs. In Scharen strömten die Verlorenen und die leicht zu Beeindruckenden zu ihm und seiner Verheißung von der Errettung im nächsten Leben und zügelloser Ausschweifung in diesem. So zogen sie, bekannt als Unruhestifter, durch die Lande, bis sie eines Tages in die Nähe einer Stadt kamen, deren Bewohner in Panik gerieten und Soldaten eines nahe gelegenen Lagers zu Hilfe riefen. Auch sie waren der Meinung, es sei an der Zeit, den lächerlichen Umtrieben Johan Corins und seiner Anhänger ein Ende zu machen. Noch in derselben Nacht wurde Corins Lager von einer ganzen Legion
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