Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
den ungehobelten Südländer direkt aus der Wildnis.«
»Ihren Erwartungen wirst du in diesem Aufzug zumindest gerecht. Komm, wir müssen los.« Falls Vult jemals nervös wurde, verbarg er es gut. Gyle konnte sich an keinen Moment erinnern, in dem Magister Belonius nicht die Ruhe selbst gewesen wäre, nicht einmal während der Kapitulation von Lukhazan.
Sie gingen durch ein Labyrinth marmorner Innenhöfe, verbunden durch palisanderverkleidete Torbogen, passierten Statuen von Herrschern und Heiligen, verneigten sich vor noblen Herren und Damen und drangen immer tiefer in den Palast vor – eine Gunst, die nur wenigen zuteilwurde. Seltsame Wesen streiften unbeaufsichtigt durch die Hallen im Innern des Palasts. Zwischenwesen aus dem kaiserlichen Bestiarium, gezüchtet mithilfe der Gnosis. Manche sahen aus wie Sagentiere, wie Greife und Pegasi, andere waren namenlose Schöpfungen, der Fantasie ihrer Erschaffer entsprungen.
Durch eine letzte Tür betraten sie eine Halle, in der Soldaten mit geflügelten Helmen wie Statuen Wache standen. Ein Diener bedeutete ihnen, ihre Amulette abzulegen – jene Steine, mit denen die Magi die Kraft der Gnosis kanalisieren. Bei Belonius war es ein Kristall an der Spitze seines kunstvoll mit Silber verzierten Akazienholzstabes. Gyle beschied sich mit einem ungefassten Onyx, den er an einem einfachen Lederband um den Hals trug. Er lehnte sein Schwert an die Wand und hängte sein Amulett an den Griff. Dann warf er Vult einen letzten Blick zu. Bereit?
Vult nickte, und gemeinsam betraten die beiden Norer das Allerheiligste ihrer Eroberer.
Sie befanden sich in einem runden Saal mit Wänden aus weißem Marmor, an der Decke prangten Reliefs der Gesegneten Dreihundert. Über einem Tisch schwebte eine sich langsam um die eigene Achse drehende Statue – Corineus, wie er gerade in den Himmel aufstieg. Der Retter blickte nach oben, das Gesicht andachtsvoll im Moment des Todes. In den Händen hielt er Laternen, die den Raum erhellten. Um eine runde Tafel aus schwerem, zu Spiegelglanz aufpoliertem Eichenholz standen neun Stühle – eine Reminiszenz an die Schlessen-Legende von König Albrett und seinen Rittern. Kaiser Constant beliebte es jedoch, dieses traditionelle Symbol der Gleichheit zu verhöhnen, indem er sich selbst auf einem erhöhten Podium platzierte. Dort saß er auf einem aus Kamelknochen geschnitzten und mit Gold verzierten Thron. Beutegut vom letzten Kriegszug, wenn Gyle sich nicht täuschte.
»Eure Majestät«, kündigte der Diener die Besucher an, »Magister-General Belonius Vult, Gouverneur von Noros, und Volsai-Magister Gurvon Gyle von Noros.«
Seine Kaiserliche Majestät Constant Sacrecour blickte unter buschigen Augenbrauen auf und runzelte die Stirn. »Sie sind Norer«, klagte er mit hoher Stimme und wand sich unbehaglich in seinem schweren hermelinbesetzten Mantel. »Mutter, du hast mir nicht gesagt, dass sie Norer sind.« Er war ein schmaler Mann Ende zwanzig, aber er benahm sich, als sei er wesentlich jünger. Er wirkte gehetzt, eine Art launisches Misstrauen stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben. Nervös nestelte er an seinem Bart herum und machte ganz den Eindruck, als wäre er lieber an einem anderen Ort oder hätte wenigstens ein angenehmeres Unterhaltungsprogramm.
»Natürlich habe ich das«, erwiderte seine Mutter strahlend. Die geheiligte Mater-Imperia Lucia Fasterius erhob sich nicht, begrüßte die beiden Neuankömmlinge aber mit einem freundlichen Lächeln. Gyle war überrascht. Er hatte sich die Frau kälter vorgestellt. Sie hatte Fältchen um Augen und Mund, was bei den eitlen Magusfrauen ein seltener Anblick war, und trug ein vergleichsweise schlichtes himmelblaues Kleid. Ihr einziger Schmuck war ein goldenes Lichtdiadem, mit dem sie das blonde Haar zusammenhielt. Sie sah aus wie eine Lieblingstante aus Kindheitstagen.
»Ihr erstrahlt in ebenso hellem Glanz wie gestern, Eure Heiligkeit«, sagte Belonius Vult mit einer tiefen Verbeugung.
Belonius’ Kompliment war so offensichtlich eine Lüge, dass die Kaiserinmutter eine Augenbraue hochzog. »Mit dem Geld, das ich für das Gewand ausgegeben habe, das ich gestern trug, hätten wir bequem den nächsten Kriegszug finanzieren können«, erwiderte sie trocken. »Ich hoffe, Ihr wollt mir damit nicht sagen, ich hätte mich lieber mit einem einfachen Bauernrock begnügen sollen, Gouverneur Vult?«
»Ich meinte lediglich, dass kein Gewand dieser Welt an den Glanz Eures Antlitzes heranreicht, geheiligte
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