Die Brüder Karamasow
Monat einen Brief geschickt hatte. Also einen ganzen Monat hatte dieses Spiel gedauert, und man hatte es vor ihm geheimgehalten, bis dieser neue Mann jetzt wirklich gekommen war – und er hatte mit keinem Gedanken an ihn gedacht! Wie war das nur möglich, daß er nicht an ihn gedacht hatte? Warum hatte er diesen Offizier damals so vollständig vergessen, kaum daß er von ihm gehört hatte? Das war eine Frage, die wie ein Ungeheuer vor ihm stand. Und er betrachtete dieses Ungeheuer voller Angst, und die Glieder waren ihm kalt geworden vor Schreck.
Plötzlich aber begann er leise und sanft mit Fenja zu sprechen, wie ein stilles, freundliches Kind, als habe er ganz vergessen, daß er sie soeben erschreckt, beleidigt und gequält hatte. Er begann, sie auszufragen, und zwar mit einer außerordentlichen, für seine Lage sogar erstaunlichen Genauigkeit. Fenja sah zwar scheu auf seine blutigen Hände, antwortete ihm jedoch ebenfalls mit erstaunlicher Bereitwilligkeit und Eile auf jede Frage. Sie schien es sogar eilig zu haben, ihm die ganze »wahrhaftige Wahrheit« auseinanderzusetzen. Allmählich begann sie ihm beinahe freudig alle Einzelheiten darzulegen, und zwar durchaus nicht in der Absicht, ihn zu quälen, sondern als wollte sie ihm nach besten Kräften und von Herzen einen Dienst erweisen. Eingehend erzählte sie ihm auch den gesamten Verlauf des heutigen Tages: vom Besuch Rakitins und Aljoschas; wie sie, Fenja, auf der Lauer gestanden habe; wie das gnädige Fräulein weggefahren sei; wie sie Aljoscha aus dem Fenster einen Gruß an ihn, Mitenka, aufgetragen habe, und er solle sein Leben lang daran denken, daß sie ihn ein Stündchen geliebt habe. Als Mitja von diesem Gruß hörte, lächelte er plötzlich, und eine helle Röte trat auf sein blasses Gesicht. In diesem Augenblick sagte Fenja, ohne sich im geringsten wegen ihrer Neugier zu fürchten: »Aber wie sehen denn Ihre Hände aus, Dmitri Fjodorowitsch? Die sind ja ganz voll Blut!«
»Ja«, antwortete Mitja mechanisch, warf einen zerstreuten Blick auf seine Hände und vergaß sie und Fenjas Frage sofort wieder. Er versank wieder in Schweigen. Seitdem er hereingestürzt war, waren schon etwa zwanzig Minuten vergangen. Sein Schreck von vorhin war verflogen; offenbar hatte sich jetzt eine unbeugsame Entschlossenheit seiner bemächtigt. Er erhob sich auf einmal von seinem Platz und lächelte gedankenversunken.
»Gnädiger Herr, was ist denn bloß mit Ihnen geschehen?« fragte Fenja und zeigte wieder auf seine Hände. Sie sagte das mitfühlend, als sei sie dasjenige Wesen, das ihm jetzt in seinem Kummer am nächsten stände.
Mitja blickte wieder auf seine Hände.
»Das ist Blut, Fenja«, sagte er und sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Das ist Menschenblut ... Und warum ist es vergossen worden? O Gott, Fenja! Da ist ein Zaun...« Er schaute sie an, als wollte er ihr ein Rätsel aufgeben. »Ein hoher Zaun, schrecklich anzusehen ... Aber morgen, bei Tagesanbruch, wenn die Sonne in die Höhe fliegt, dann wird Mitenka über diesen Zaun springen ... Du verstehst nicht, was das für ein Zaun ist, Fenja. ... Nun, das schadet nichts ... Ganz gleich, morgen wirst du es hören und alles verstehen ... Und jetzt lebe wohl! Ich werde nicht stören, ich werde beiseite treten, ich werde es fertigbringen, beiseite zu treten. Lebe du nur, du meine Freude! Du hast mich ein Stündchen geliebt – so erinnere denn auch du dich dein Leben lang an Mitenka Karamasow ... Sie nannte mich ja immer Mitenka, erinnerst du dich?«
Mit diesen Worten verließ er plötzlich die Küche. Fenja aber erschrak über sein Weggehen fast noch mehr als vorher, als er hereingekommen war und sich auf sie gestürzt hatte.
Genau zehn Minuten später betrat Dmitri Fjodorowitsch die Wohnung des jungen Beamten Pjotr Iljitsch Perchotin, bei dem er vor kurzem seine Pistolen versetzt hatte. Es war schon halb neun, und Pjotr Iljitsch, der zu Hause Tee getrunken hatte, war soeben wieder beim Ankleiden, um ins Restaurant »Zur Residenz« zu gehen und dort Billard zu spielen. Mitja traf ihn noch gerade vor dem Weggehen an. Als der Beamte ihn und sein blutbeflecktes Gesicht erblickte, schrie er laut auf.
»Herrgott! Was ist denn mit Ihnen geschehen?«
»Ich bin gekommen«, antwortete Mitja hastig, »um mir meine Pistolen wiederzuholen und Ihnen Ihr Geld zu bringen. Vielen Dank! Ich habe es sehr eilig, Pjotr Iljitsch. Bitte, machen Sie recht schnell!«
Pjotr Iljitsch staunte immer mehr. Er sah auf
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