Die Brüder Karamasow
auswärtige Arzt untersuchte ihn vorgestern auf meine Bitte und sagte mir, er stehe dicht vor dem Ausbruch eines Nervenfiebers – und an allem ist der da schuld, dieser Unmensch! Gestern erfuhr Iwan nun, daß Smerdjakow tot ist, und das hat ihn so erschüttert, daß er den Verstand verloren hat ... Und an allem ist dieser Unmensch schuld! Alles ist so gekommen, weil er diesen Unmenschen retten wollte!«
Oh, so reden und solche Geständnisse machen, das kann man wohl nur ein einziges Mal im Leben, etwa in der Todesstunde, wenn man das Schafott besteigt. Für Katja war ein solcher Augenblick gekommen, und sie handelte ihrem Charakter gemäß. Das war dieselbe ungestüme Katja, die damals zu dem jungen Lebemann geeilt war, um ihren Vater zu retten; dieselbe Katja, die sich kurz vorher vor diesem Publikum stolz und keusch geopfert hatte, indem sie von »Mitjas edler Tat« erzählte, um das Schicksal, das ihn erwartete, wenigstens etwas zu mildern. Und jetzt brachte sie sich ebenso zum Opfer, nunmehr für einen anderen – und vielleicht hatte sie erst in diesem Augenblick zum erstenmal mit vollem Bewußtsein empfunden, wie teuer ihr dieser andere Mensch war! In Angst um ihn opferte sie sich auf, da sie plötzlich glaubte, er habe sich durch seine Aussage, er und nicht sein Bruder habe den Mord begangen, zugrunde gerichtet; sie opferte sich auf, um ihn, seine geachtete Stellung, seinen guten Ruf zu retten! Und dennoch ging ihr ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf: Hatte sie auch nicht etwas Unwahres über Mitja gesagt, als sie ihre früheren Beziehungen zu ihm geschildert hatte – das war die Frage. Nein, nein, sie hatte ihn nicht absichtlich verleumdet, wenn sie geäußert hatte, Mitja habe sie wegen ihrer tiefen Verbeugung verachtet! Sie hielt das selbst für wahr; sie war vielleicht schon seit jeher fest davon überzeugt, daß Mitja, dieser offenherzige Mensch, der sie damals noch vergötterte, sich über sie lustig machte und sie verachtete. Und nur aus verletztem Stolz hatte sie sich damals mit ihrer krampfhaft überspannten Liebe an ihn gehängt, und diese Liebe hatte mehr Ähnlichkeit mit Rachsucht gehabt als mit Liebe. Oh, vielleicht hätte sich diese überspannte Liebe in wahre Liebe verwandelt, vielleicht wünschte Katja weiter nichts als dies; doch Mitja kränkte sie durch seine Untreue in tiefster Seele, und ihre Seele verzieh ihm das nicht. Der Augenblick der Rache kam ihr ganz unerwartet, und alles, was sich so lange und schmerzhaft in der Brust der gekränkten Frau angesammelt hatte, brach sich nun mit einemmal und wiederum unerwartet nach außen Bahn. Sie beging einen Verrat an Mitja, zugleich aber auch an sich selbst! Und kaum hatte sie sich ausgesprochen, löste sich die krampfhafte Spannung, und die Scham überwältigte sie. Es folgte wieder ein hysterischer Anfall; sie fiel schluchzend und kreischend hin. Man trug sie hinaus. In dem Moment, als sie hinausgetragen wurde, stürzte Gruschenka von ihrem Platz so schnell zu Mitja, daß man sie nicht mehr zurückhalten konnte.
»Mitja!« schrie sie. »Sie hat dich zugrunde gerichtet, deine Schlange! Jetzt hat sie Ihnen ihre wahre Natur gezeigt!« rief sie zornbebend dem Gerichtshof zu.
Auf einen Wink des Präsidenten wurde sie ergriffen; man versuchte, sie aus dem Saal zu bringen. Aber sie sträubte sich, schlug um sich und wollte sich losreißen, um zu Mitja zurückzukehren.
Mitja schrie auf und wollte ebenfalls zu ihr stürzen. Er wurde überwältigt ...
Ja, ich glaube, unsere schaulustigen Damen konnten befriedigt sein: Es war ein reichhaltiges Schauspiel. Dann erschien, wenn ich mich recht erinnere, der Arzt aus Moskau. Der Präsident hatte wohl schon vorher den Gerichtsinspektor beauftragt, dafür zu sorgen, daß Iwan Fjodorowitsch ärztliche Hilfe zuteil wurde. Der Arzt berichtete dem Gerichtshof, daß der Kranke einen höchst gefährlichen Anfall von Nervenfieber erlitten habe und unverzüglich fortgeschafft werden müsse. Auf die Fragen des Staatsanwalts und des Verteidigers bestätigte er, daß der Patient vor zwei Tagen selbst zu ihm gekommen war und er ihm schon damals den baldigen Ausbruch eines solchen Fiebers vorhergesagt habe; allerdings habe sich der Patient nicht in ärztliche Behandlung geben wollen. »Er war keinesfalls in gesunder Geistesverfassung. Er gestand mir, daß er in wachem Zustand Visionen habe, auf der Straße allerlei toten Personen begegne und daß ihn allabendlich der Satan besuche!« schloß der berühmte Arzt und
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