Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brüder Karamasow

Die Brüder Karamasow

Titel: Die Brüder Karamasow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
geleistet; denn ohne sie hätten wir niemals einigermaßen vollständige Kenntnis von jenen entsetzlichen Taten eines zügellosen Willens und einer moralischen Verkommenheit erlangt, die sie ununterbrochen in ihren Spalten allen mitteilt, nicht nur denjenigen, die die Säle des neuen öffentlichen Gerichtswesens besuchen, das uns von der jetzigen kaiserlichen Regierung geschenkt worden ist. Und was lesen wir fast täglich? Oh, fortwährend lesen wir von solchen Dingen, vor denen sogar der uns beschäftigende Fall verblaßt und beinahe als etwas Gewöhnliches erscheint. Aber das allerwichtigste ist, daß eine Menge unserer russischen Kriminalfälle eben von einem allgemeinen Zustand zeugt, von einem gemeinsamen Übel, das bei uns heimisch geworden und wegen seiner weiten Verbreitung nur schwer zu bekämpfen ist. Da ist ein junger, glänzender Offizier, der den höchsten Gesellschaftskreisen angehört und sein Leben und seine Laufbahn eben erst beginnt: Auf gemeine Weise ermordet er heimlich ohne alle Gewissensbisse einen kleinen Beamten, der in gewisser Hinsicht sein Wohltäter gewesen ist, sowie dessen Dienstmagd, um seinen Schuldschein und zugleich auch das übrige bißchen Geld des Beamten zu stehlen! Das werde ich für meine Vergnügungen als Lebemann und für meine künftige Karriere gut gebrauchen können, sagt er sich. Nachdem er die beiden ermordet und den Leichen Kissen unter die Köpfe gelegt hat, geht er davon ... Da bringt ein junger Held, der mit Orden für bewiesene Tapferkeit dekoriert worden ist, in Räubermanier auf der Landstraße die Mutter seines Vorgesetzten und Wohltäters um und versichert zuvor, als er seine Kameraden zur Teilnahme an dem Verbrechen auffordert, sie liebe ihn wie ihren Sohn und befolge daher alle seine Ratschläge und werde keine Vorsichtsmaßregeln treffen. Mag man ihn einen Unmenschen nennen, aber ich wage jetzt, in unserer Zeit, nicht mehr zu sagen, daß er der einzige Unmensch ist. Ein anderer begeht zwar keinen Mord, denkt und fühlt aber genauso wie jener und ist innerlich genauso ehrlos wie er. Im stillen, wenn er mit seinem Gewissen allein ist, fragt er sich vielleicht: Was ist denn eigentlich Ehre? Ist die Scheu vor Blutvergießen nicht eine veraltete Anschauung? Vielleicht wird man mir widersprechen und sagen, ich sei ein kränklicher, hysterischer Mensch, ich brächte ungeheuerliche Verleumdungen vor, ich phantasierte und übertriebe. Wenn dem so wäre, o Gott, ich wäre der erste, der sich darüber freute! Oh, glauben Sie mir nicht, halten Sie mich für krank, aber vergessen Sie trotzdem nicht meine Worte! Wenn auch nur ein Zehntel, nur ein Zwanzigstel von meinen Worten Wahrheit ist, so ist ja auch das schon entsetzlich! Sehen Sie nur, meine Herren, wie sich bei uns die jungen Leute erschießen! Oh, ohne im geringsten mit Hamlet zu fragen: ›Was wird dort sein?‹ Ohne eine Spur einer solchen Frage, als wäre dieses ganze Kapitel über unsere Seele und über alles, was uns jenseits des Grabes erwartet, längst in ihrem Kopf gestrichen, begraben und mit Sand zugeschüttet ... Und werfen Sie schließlich einen Blick auf unsere Unsittlichkeit, auf unsere Wüstlinge! Fjodor Pawlowitsch, das unglückliche Opfer des vorliegenden Prozesses, ist im Vergleich mit manchen von ihnen beinahe ein unschuldiges Kind; aber wir haben ihn ja alle gekannt, er lebte unter uns ... Ja, mit der Psychologie des russischen Verbrechens werden sich vielleicht einmal die hervorragendsten Geister hier und in Westeuropa beschäftigen, denn der Gegenstand verdient das. Doch dieses Studium wird erst später erfolgen können, wenn Muße dazu vorhanden und uns die ganze tragische Absurdität des gegenwärtigen Augenblicks ferner gerückt ist, so daß man sie verständnisvoller und leidenschaftsloser wird betrachten können, als zum Beispiel Leute wie ich das vermögen. Jetzt aber entsetzen wir uns oder tun so, als ob wir uns entsetzen, während wir in Wirklichkeit als Liebhaber starker, exzentrischer Empfindungen, die uns aus unserem zynisch-trägen Müßiggang aufrütteln, das sich uns darbietende Schauspiel mit Genuß auskosten. Oder aber wir wehren wie kleine Kinder die furchtbaren Gespenster mit den Händen von uns ab und stecken den Kopf unter das Kissen, bis die schreckliche Erscheinung vorübergegangen ist, um sie dann sogleich in Heiterkeit und Spielen zu vergessen. Doch irgendwann müssen auch wir unser Leben mit nüchterner Überlegung beginnen, müssen auch wir einen Blick auf uns selbst

Weitere Kostenlose Bücher