Die Brüder Löwenherz
gar nicht vorstellen kann, daß es einen Tengil oder sonst etwas Böses auf der Welt gibt. Ganz still und friedlich war es. Zwischen den Steinen unter der Brücke gluckerte leise das Wasser - sonst hörte man nichts. Es war schön, dort auf dem Rücken zu liegen und nichts weiter zu sehen als die weißen Wölkchen oben am Himmel. Man konnte einfach daliegen und sich wohl fühlen, vor sich hin summen und auf alles übrige pfeifen. Und da fängt Jonathan von Tengil an! Ich wollte nicht an ihn erinnert werden, sagte aber doch:
»Was meinst du damit? Daß für Tengil die Stunde schlägt?«
»Daß es ihm genauso geht, wie es allen Tyrannen früher oder später ergeht«, sagte Jonathan.
»Daß er wie eine Laus zerquetscht wird und für immer verschwindet.«
»Hoffentlich geschieht es bald«, sagte ich. Da murmelte Jonathan vor sich hin:
»Aber er ist stark, dieser Tengil. Und er hat Katla!«
Wieder nannte er diesen furchtbaren Namen. Ich wollte ihn danach fragen, ließ es aber bleiben. An so einem herrlichen Morgen war es besser, nichts von Katla zu erfahren. Doch dann sagte Jonathan etwas, das schlimmer war als alles andere.
»Krümel, du wirst eine Zeitlang auf dem Reiterhof allein bleiben müssen. Denn ich muß ins Heckenrosental.«
Wie konnte er nur so etwas Schreckliches sagen? Wie konnte er glauben, ich würde auch nur eine einzige Minute ohne ihn im Reiterhof bleiben? Und wenn er sich Tengil geradewegs in den Rachen stürzte, ich würde ihn begleiten, und das sagte ich ihm auch. Da sah er mich so seltsam an und sagte:
»Krümel, ich habe einen einzigen Bruder, und den möchte ich vor allem Bösen bewahren. Wie kannst du von mir verlangen, daß ich dich mitnehme, wo ich doch all meine Kraft für anderes brauche? Für etwas, das wirklich gefährlich ist.«
Doch was er auch sagte, es half nichts. Ich war traurig und so böse, daß es in mir kochte, und ich schrie:
»Und du, wie kannst du von mir verlangen, daß ich allein im Reiterhof hocke und auf dich warte und du womöglich niemals wiederkommst!«
Plötzlich mußte ich daran denken, wie es damals gewesen! war, damals, als Jonathan tot und fort gewesen war und ich auf meiner Schlafbank in der Küche gelegen und nicht mit Sicherheit gewußt hatte, ob ich ihn wiedersehen würde. Daran zu denken war wie in ein schwarzes Loch starren! j Und nun wollte er mich wieder verlassen, einfach fortgehen, sich in Gefahren begeben, von denen ich nichts wußte. Und wenn er nicht zurückkam, dann gab es diesmal keine Hilfe mehr, dann würde ich für immer allein sein. Ich spürte, daß ich immer zorniger wurde, und schließlich schrie ich ihn an und sagte ihm so viele Gemeinheiten, wie mir nur einfielen. Es war nicht leicht für ihn, mich zu beruhigen. Einigermaßen zu beruhigen. Aber natürlich brachte er es schließlich fertig. Ich wußte ja, daß er alles besser verstand als ich.
»Dummkopf du, natürlich komme ich wieder«, sagte er. Er sagte es, als wir uns abends in der Küche am Feuer wärmten. An jenem Abend, bevor er sich auf den Weg machte. Jetzt war ich nicht mehr böse, nur traurig, und Jonathan wußte es. Er war sehr lieb zu mir. Er gab mir frisch gebackenes Brot mit Butter und Honig und erzählte mir Sagen und Geschichten, aber ich konnte gar nicht zuhören. Ich dachte an das, was mir Jonathan von Tengil erzählt hatte, es kam mir vor, als wäre es die grausamste aller Sagen. Ich fragte Jonathan, warum er sich in eine solche Gefahr begeben müsse. Ebensogut könne er doch zu Hause am Feuer sitzen und es sich gutgehen lassen. Aber da antwortete mir Jonathan, es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn es gefährlich sei.
»Aber warum bloß?« fragte ich.
»Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck«, erwiderte er. Er hatte mir erzählt, was er vorhatte. Er wollte versuchen, Orwar aus der Katlahöhle zu befreien. Denn Orwar sei sogar noch wichtiger als Sophia, sagte er, und ohne Orwar wäre es wohl aus mit Nangijalas grünen Tälern. Es war spät am Abend. Das Feuer im Kamin erlosch, es wurde Nacht. Und es wurde wieder Tag. Ich stand an der Gartenpforte und sah Jonathan davonreiten und im Nebel verschwinden, ja, an diesem Morgen lag Nebel über dem Kirschtal. Und glaubt mir, das Herz wollte mir brechen, so war mir zumute, als ich dort stand und mit ansehen mußte, wie ihn der Nebel verschlang, wie Jonathan ausgelöscht wurde und verschwand. Und ich blieb allein zurück. Es war nicht zu ertragen. Ich war wie verrückt vor Kummer.
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