Die Brüder Löwenherz
Ich lief in den Stall, führte Fjalar hinaus, warf mich in den Sattel und jagte hinter Jonathan her. Einmal noch mußte ich ihn sehen, ehe ich ihn vielleicht für immer verlor. Er wollte erst zum Tulipahof reiten, um von Sophia Anweisungen zu bekommen, das wußte ich, also ritt ich dorthin. Ich ritt wie ein Besessener, und dicht vor dem Hof holte ich ihn ein. Da schämte ich mich fast und wollte mich verstecken, aber er hatte mich schon gesehen und gehört.
»Was willst du?« fragte er. Ja, was wollte ich eigentlich?
»Kommst du auch ganz bestimmt wieder?« murmelte ich. Es war das einzige, was mir einfiel. Da kam er an meine Seite geritten, und unsere Pferde blieben nebeneinander stehen. Er wischte mir etwas von der Wange, Tränen waren es wohl, mit dem Zeigefinger tat er es, und J dann sagte er:
»Weine nicht, Krümel! Wir sehen uns wieder - bestimmt! Wenn nicht hier, dann in Nangilima.«
»Nangilima?« fragte ich. »Was ist denn das?«
»Davon erzähle ich dir ein andermal«, antwortete Jonathan. Ich begreife nicht, wie ich diese Zeit allein auf dem Reiterhof | ertragen habe, und weiß nicht, wie ich die Tage verbrachte. Natürlich versorgte ich meine Tiere. Meistens war ich wohl im Stall bei Fjalar. Und manche Stunde hockte ich bei meinen Kaninchen und redete mit ihnen. Ein wenig angelte ich auch und badete und schoß mit Pfeil und Bogen nach der Scheibe, doch alles kam mir so dumm vor, weil Jonathan nicht dabei war. Hin und wieder brachte Sophia mir Essen, und dann sprachen wir von ihm. Ständig hoffte ich, sie werde sagen:
»Jetzt kommt er bald nach Hause.«
Aber sie sagte es nicht. Und ich wollte sie fragen, warum sie nicht an Jonathans Stelle ausgezogen sei, um Orwar zu befreien. Doch wozu fragen, ich wußte es ja. Weil Tengil Sophia haßte.
»Sophia im Kirschtal und Orwar im Heckenrosental sind seine ärgsten Feinde, und, glaub mir, er weiß es«, hatte Jonathan gesagt, als er mir erklärt hatte, wie es stand.
»Orwar hält er in der Katlahöhle gefangen, und nur zu gern will er auch Sophia dahin schaffen, um sie verschmachten und sterben zu lassen. Dieser elende Kerl, fünfzehn Schimmel hat er demjenigen als Belohnung versprochen, der ihm Sophia tot oder lebendig bringt.«
All das hatte Jonathan mir erzählt. Also wußte ich recht gut, warum Sophia nicht in das Heckenrosental reiten konnte. Statt dessen mußte Jonathan es tun. Von ihm wußte Tengil nichts. Wenigstens konnte man es glauben und hoffen. Doch einer mußte durchschaut haben, daß Jonathan nicht nur ein Gärtnerbursche war. Jener Mann, der nachts bei uns gewesen war. Jener, den ich am Küchenschrank stehen sah. Vor ihm konnte sich Sophia nicht genug hüten.
»Jener Mann weiß zuviel«, sagte sie. Und sie wünschte, daß ich ihr sofort berichtete, wenn wieder jemand auf dem Reiterhof herumschnüffelte. Ich aber sagte ihr, daß man im Küchenschrank vergeblich suchen werde, denn die geheimen Papiere seien nun woanders verwahrt. Sie lägen jetzt in der Geschirrkammer in der Haferkiste. In einer großen Schnupftabaksdose unter all dem Hafer. Sophia ging mit mir in die Geschirrkammer und kramte die Dose hervor und legte eine neue Botschaft hinein. Es sei ein gutes Versteck, meinte sie, und das fand ich auch.
»Halte durch, wenn du irgend kannst«, sagte Sophia, als sie ging.
»Ich weiß, es ist schwer, aber du mußt durchhalten!«
Und ob es schwer war! Besonders abends und nachts. Ich träumte so schrecklich von Jonathan und ängstigte mich immer um ihn, auch wenn ich wach war. Eines Abends ritt ich zum
»Goldenen Hahn«. Ich ertrug es nicht, nur zu Hause zu hocken, es war so still auf dem Reiterhof, meine Gedanken waren nur allzu gut zu hören. Und es waren Gedanken, die mich nicht froh machten. Wie mich alle anstarrten, als ich ohne Jonathan in die Schankstube trat!
»Was ist denn los?« fragte Jossi. »Nur die Hälfte der Brüder Löwenherz! Wo hast du denn Jonathan gelassen?«
Jetzt saß ich in der Patsche. Natürlich dachte ich an das, was Jonathan und Sophia mir immer wieder gesagt hatten. Was auch geschah, keinesfalls durfte ich erzählen, was Jonathan vorhatte und wohin er unterwegs war. Keiner Menschenseele! Ich tat also, als hätte ich Jossis Frage überhört. Aber dort saß Hubert an seinem Tisch und wollte es auch wissen.
»Ja, wo ist Jonathan?« fragte er.
»Sophia ist doch ihren Gärtnerburschen nicht etwa losgeworden?«
»Jonathan ist auf der Jagd«, sagte ich. »Er ist in den Bergen und jagt
Weitere Kostenlose Bücher