Die Brüder Löwenherz
Schimmel haben wollte.
Darum bat ich Jonathan, seiner Botschaft noch eine Zeile hinzuzufügen: »Das mit Rotbart stimmt nicht, sagt Karl.« Ich erzählte auch, wie Hubert mich vor den Wölfen gerettet hatte, und Jonathan sagte, er werde ihm sein Leben lang dafür dankbar sein.
Als wir Bianca losschickten, zog die Abenddämmerung über dem Heckenrosental auf, und überall in den Häusern und Gehöften am Hang unter uns gingen die Lichter an. Alles sah ruhig und friedlich aus. Man hätte glauben können, daß die Menschen dort drinnen bei einem guten Abendbrot saßen oder miteinander schwatzten und mit ihren Kindern spielten, ihnen Lieder vorsangen und es gemütlich hatten. Aber so war es nicht. Sie hatten kaum etwas zu essen und waren alles andere als froh und glücklich, sie waren tief unglücklich! Tengils Männer mit ihren Schwertern und Speeren oben auf der Mauer brachten es ihnen schon in Erinnerung, falls sie es einen Augenblick vergessen sollten.
In Matthias’ Fenster brannte kein Licht. Sein Haus war dunkel, und alles war so still, als wohnte dort keine Menschenseele. Aber wir waren da, nicht drinnen im Haus, sondern draußen. Matthias hielt an der Hausecke Wache, und Jonathan und ich schlichen mit Bianca im Heckenrosengebüsch umher.
Heckenrosensträucher gab es rund um den ganzen Matthishof. Und ich mag Heckenrosen gern. Sie duften so gut. Nicht stark, nur zart. Doch mir kam der Gedanke: Nie wieder werde ich Heckenrosen riechen können, ohne Herzklopfen zu bekommen und daran zu denken, wie wir in diesem Gesträuch umherschlichen, Jonathan und ich. So dicht an der Mauer, wo die Tengilmänner horchten und spähten, vor allem nach einem mit dem Namen Löwenherz.
Jonathan hatte sich das Gesicht geschwärzt und eine Kapuze tief über die Augen gezogen. Er sah gar nicht mehr aus wie Jonathan, nein, wirklich nicht. Aber auch so war es noch gefährlich genug für ihn. Jedesmal wenn er sein Versteck verließ, konnte es sein Leben kosten. Schlupf nannte er dieses Versteck. Hundert Mann fahndeten Tag und Nacht nach ihm, das wußte ich, und das hatte ich ihm auch gesagt, doch er meinte nur: »Ja, das können sie meinetwegen gern tun.« Er selber wollte Bianca losfliegen lassen, hatte er gesagt, um sicher zu sein, daß niemand dabei zusah. Die Mauerwächter hatten offenbar jeweils ein bestimmtes Stück der Mauer zu bewachen. Ein dicker Kerl trabte die ganze Zeit über oben auf der Mauer dicht hinter dem Matthishof hin und her, vor ihm mußten wir uns besonders in acht nehmen.
Währenddessen stand Matthias mit der Stallaterne an der Hausecke. Es war abgemacht, daß er uns Zeichen geben sollte.
»Wenn ich die Laterne tief halte«, hatte Matthias gesagt, »dürft ihr nicht einmal Atem holen, denn dann ist der dicke Dodik ganz nahe. Halte ich aber die Laterne hoch, ist er hinten an der Biegung der Mauer, wo er meistens mit einem Kameraden schwatzt. Das ist der rechte Augenblick, dann laßt Bianca fliegen.«
Und das taten wir.
»Flieg, Bianca, flieg«, flüsterte Jonathan. »Flieg über Nangijalas Berge ins Kirschtal.
Und hüte dich vor Jossis Pfeilen!« Ich weiß nicht, ob Sophias Tauben wirklich die Menschensprache verstanden, glaube aber fast, daß Bianca es tat. Sie hielt den Schnabel dicht an Jonathans Wange, als wolle sie ihn beruhigen, und dann flog sie davon. Sie schimmerte weiß in der Dämmerung, gefährlich weiß. Wie leicht konnte dieser Dodik sie sehen, wenn sie über die Mauer flog. Doch er sah sie nicht.
Wahrscheinlich schwatzte er und hörte und sah nichts. Derweil hielt Matthias Wache, und er senkte die Laterne nicht.
Wir sahen Bianca verschwinden, und nun zerrte ich an Jonathans Arm, ich wollte ihn so schnell wie möglich wieder in Sicherheit wissen. Aber Jonathan wollte nicht.
Noch nicht. Es war ein so herrlicher Abend, die Luft war lau, es atmete sich so leicht. Er hatte wohl keine Lust, wieder in die stickige kleine Kammer zu kriechen.
Keiner konnte das besser verstehen als ich: Zu Hause in der Stadt war ich ja auch immer in der Küche eingesperrt gewesen.
Jonathan saß im Gras, hatte die Arme um die Knie geschlungen und sah ins Tal hinunter. Seelenruhig saß er da, man hätte glauben können, er wolle die ganze Nacht dort sitzen bleiben, egal, wie viele Tengilmänner hinter ihm auf der Mauer auf und ab marschierten. »Warum sitzt du hier?« fragte ich.
»Weil es mir gefällt«, antwortete Jonathan. »Weil mir das Tal in der Dämmerung gefällt. Und die laue Luft gefällt mir auch. Und
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